„Meine Stunden mit Leo“: Hinreißend bis zum Happy-End
In „Meine Stunden mit Leo“ spielt die großartige Emma Thompson eine Frau, die lernt, ihre Lust zu leben und ihren Körper zu lieben.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – Seit „Meine Stunden mit Leo“ Anfang des Jahres zunächst beim US-amerikanischen Sundance-Festival und wenig später bei der Berlinale präsentiert wurde, wird Emma Thompson vornehmlich für ihren Mut gelobt. Thompson – sowohl als Schauspielerin wie als Drehbuchautorin vielfach ausgezeichnet – ist 63 Jahre alt. Die von ihr in „Meine Stunden mit Leo“ gespielte Nancy Stokes ist 55. Und die steht – Achtung Spoiler – am Ende des Films nackt vor dem Spiegel. Dieses Schlussbild ist das konsequente Happy-End einer im Grund tieftraurigen Geschichte. Schon früh im Film hofft man, dass diese Geschichte auf ein solches Bild hinausläuft. Nicht aus Voyeurismus, sondern weil man Nancy diesen Moment, den sie sich viel zu lange verweigert hat, wünscht.
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Dass man ihr diesen Moment wünscht, dass man hofft, dieser Moment möge ihr zur Selbstverständlichkeit werden, die er immer schon sein sollte, liegt nicht am Mut der Schauspielerin Emma Thompson, sondern an ihrem Spiel. Und dass in der Berichterstattung über „Meine Stunden mit Leo“ trotzdem vom Mut, sich – wie mancherorts zu lesen ist – „ungeschönt“ zu zeigen, die Rede ist, zeigt vor allem, dass „Meine Stunden mit Leo“ um einiges weiter ist als die Berichterstattung darüber. Was von der Kritik als revolutionär beklatscht wird, ist im Film die einzig mögliche Entwicklung. Oder anders: Nicht Thompsons Nacktheit ist hier die Zumutung, sondern der Umstand, dass dieser kurze, dramaturgisch notwendige und beglückende Augenblick als etwas Außerordentliches hervorgehoben werden muss.
Im Grunde ist „Meine Stunden mit Leo“ eine kammerspielhafte Konversationskomödie. Nancy Stokes, verwitwete Lehrerin im Ruhestand, engagiert den Sexarbeiter und selbsterklärten Sexualtherapeuten Leo Grande (Daryl McCormack), um sich wenigstens für einige Stunden aus dem Korsett aus gesellschaftlichen Konventionen, prüden Moralvorstellungen und sexuellem Frust zu befreien. Ihre Angst davor überspielt sie mit Geplapper. Leo Grande hört zu, antwortet in schönen Sätzen über das Recht jedes Menschen, seine Lust ausleben zu können, zum Beispiel oder über Body- und Sex-Positivity. Dass er dabei nicht immer über die Funktion als dekorativer Erklärbär und Stichwortgeber für Thompsons darstellerische Großleistung hinauskommt, ist eine der Schwächen des von Sophie Hyde inszenierten Films. Wirklich ins Gewicht fällt sie nicht: Dafür ist das mal verdruckste, mal überdrehte Hin und Her über echte und ausgedachte Lebenslügen dann doch zu hinreißend.
Man möge Emma Thompson Anfang nächsten Jahres für „Meine Stunden mit Leo“ mit ihrem zweiten Schauspiel-Oscar auszeichnen. Nicht weil sie Mut zur Nacktheit bewies, sondern weil sie die eineinhalb Stunden davor so wunderbar gezeigt hat, warum es dafür eigentlich keinen Mut mehr brauchen sollte.
Meine Stunden mit Leo. Ab heute in den Kinos.