Großbritannien

Pressestimmen: „Truss erbt zerrüttetes Großbritannien“

Kan Liz Truss das Ruder für die Konservativen herumreißen? Die Kommentatoren internationaler Zeitungen bezweifeln es.
© IMAGO/Tayfun Salci

Die Wahl der bisherigen britischen Außenministerin Liz Truss zur Nachfolgerin von Premierminister Boris Johnson wurde am Dienstag von der internationalen Presse intensiv kommentiert. Eine Auswahl.

"Guardian" (London):

"Liz Truss zieht zu einem ungünstigen Zeitpunkt in die Downing Street Nummer 10 ein. Steigende Gaspreise und Risiken für die Stromversorgung könnten in diesem Winter zu Blackouts führen. Großbritannien steht vor einer Welle von Streiks, wie es sie seit 50 Jahren nicht mehr gegeben hat, und es droht die Gefahr einer Stagflation. Liz Truss hat das Spitzenamt jedoch dadurch gewonnen, dass sie diese Malaise nicht angesprochen, ja nicht einmal anerkannt hat. (...)

Truss wird nicht lange im Amt bleiben, wenn sie ihre Realitätsflucht fortsetzt. Ihr Vorgänger, Boris Johnson, dachte, die Öffentlichkeit sei bereit, sich täuschen zu lassen – vorausgesetzt, es gäbe genug Möglichkeiten, Spaß zu haben. Irgendwann holten ihn die Lügen ein. Truss verfügt nicht über seine Starqualitäten, seine schiere Unverfrorenheit und seine Wahlerfolge. Außerdem führt sie eine Partei an, die in ihrer Regierungszeit die öffentlichen Dienste Großbritanniens heruntergewirtschaftet hat und deren wichtigstes politisches Projekt – der Brexit – nicht die versprochene dramatische Wende in den Geschicken der Nation gebracht hat."

"The Telegraph" (London):

"Das dringlichste Problem sind die explodierenden Energiepreise und die negativen Auswirkungen auf die Kosten von Haushalten und Unternehmen, da die Inflationsrate bereits zweistellig ist und sich die Wirtschaft mit ziemlicher Sicherheit in einer Rezession befindet. Liz Truss hat eine Antwort im Laufe dieser Woche versprochen, wobei Insider vorhersagen, dass die Gas- und Stromrechnungen auf dem letzten gedeckelten Niveau eingefroren werden. (...)

Die zweite unmittelbare Herausforderung betrifft den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS), dessen Primär- und Notfallversorgung dringend einer mutigen Intervention bedarf, um einen vollständigen Zusammenbruch zu verhindern. Wenn Menschen an Herzinfarkten oder Schlaganfällen sterben, weil Krankenwagen nicht auf Notrufe reagieren, versagt das System bei seiner grundlegendsten Aufgabe. Ein glaubwürdiger und wirksamer Plan zur Lösung dieses Problems ist dringend erforderlich.

Die Art und Weise, wie Truss mit diesen ersten großen Entscheidungen umgeht, könnte für den Rest ihrer Amtszeit bestimmend sein, ebenso wie der Nothaushalt mit Steuersenkungen, der noch vor Ende des Monats erwartet wird. Sie will sofort durchstarten und verdient eine Chance, zu zeigen, was sie und ihre neue Regierung zu leisten imstande sind, bevor ein Urteil gefällt wird."

"De Standaard" (Brüssel):

"Liz Truss erbt von Boris Johnson ein zerrüttetes Großbritannien, das weiter auf den wirtschaftlichen Wohlstand wartet, der ihm von den Brexiteers vorgegaukelt worden war. Am letzten Wochenende mussten gestrandete Urlauber in Calais wegen Zollformalitäten sechs Stunden warten, ehe sie auf die Fähre in Richtung Heimat gehen konnten. Das ist für die Briten noch das kleinere Übel. Schlimmer ist, dass auch dort die Inflation auf mehr als zehn Prozent gestiegen ist. Streiks für mehr Lohn beeinträchtigen solche wichtigen Dienstleistungsbereiche wie den Bahnverkehr, die Post, Transportfirmen, die Müllabfuhr und sogar das Rechtswesen. (...) Unterdessen bleibt die britische Regierung auf Konfrontationskurs mit Europa. Und das, obwohl die Geschicke Großbritanniens und der Europäischen Union auch nach dem Brexit unlösbar miteinander verbunden sind. Wirtschaftlich ebenso wie geopolitisch."

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"Politiken" (Kopenhagen):

"Dass Großbritannien bis zur Wahl 2024 von Liz Truss und ihren konservativen Kollegen geführt werden soll, ist traurig. Mist für die Briten und Mist für die EU, die sich vermutlich auf weitere Krisen und Konflikte statt auf das solide, enge Verhältnis freuen können, das beiden Seiten am besten dienen würde. Großbritannien braucht Veränderung – eine Veränderung, die Truss nicht repräsentiert. Man muss innerlich hoffen, dass es der Oppositionspartei Labour gelingt, bei der nächsten Wahl an die Macht zu kommen. Eine Sache ist sicher: Wenn Labour nicht gegen Truss gewinnen kann, nachdem die Konservativen Großbritannien völlig ins Trudeln gebracht haben, dann ist schwer zu sehen, wie das jemals gelingen soll."

"La Repubblica" (Rom):

"Eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen der britischen Geschichte; Rekordinflation; Energieverteuerung, die einen großen Teil der Bevölkerung vor eine Art Hamlet-Dilemma 'heizen oder essen' stellt; ein ungelöster Brexit, der Nordirland zum Platzen bringen kann; Schottlands Pläne für ein Unabhängigkeitsreferendum; die Ungewissheit durch Covid-19; Streiks im Transportwesen und anderen Sektoren; dazu in der Außenpolitik der Krieg in der Ukraine und die Konfrontation mit China: All dies, zusätzlich zur mangelhaften Kompetenz, die die neue Premierministerin Liz Truss in ihrer vorherigen Rolle als Außenministerin gezeigt hat, lässt Analysten darauf wetten, dass ihr Aufenthalt in der Downing Street kurz sein wird, wenn nicht sogar sehr kurz, falls Johnson versucht, schneller dorthin zurückzukehren, wie es sein Held Winston Churchill tat.

Mit gerade einmal 80.000 Stimmen von Parteimitgliedern in einem Land mit 67 Millionen Einwohnern gewählt, hat Truss einen steilen Weg vor sich. Aber selbst wenn sie den Posten verdient hätte, ist die Wahrscheinlichkeit trotzdem hoch, dass Labour die kommende Wahl gewinnt, vielleicht in einer Koalition mit den liberal-demokratischen Zentristen."

"Wall Street Journal" (New York):

"Der Fehler der Tories war, dass sie sich in eine weitere Umverteilungspartei verwandelten, anstatt als britische Wohlstandspartei aufzutreten. Der Wohlstand verflüchtigt sich, während Großbritannien zur leistungsschwächsten großen Volkswirtschaft wird. Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die Wähler der oppositionellen Labour Party im Hinblick auf Umverteilung mehr vertrauen. (...)

Der Hauptvorwurf gegen Truss ist, dass ihre Agenda finanziell waghalsig ist. Aber der Status quo der Tories ist kläglich gescheitert, und es wäre leichtsinnig für das Land und politisches Fehlverhalten, weiterhin dasselbe zu tun. Wünschen Sie der neuen Premierministerin viel Glück, denn sie wird es brauchen."

"El Mundo" (Madrid):

"Mit einem Vorsprung von nur 20.000 Stimmen gegenüber ihrem Konkurrenten, Ex-Finanzminister Sunak, hat sich Truss als neue Chefin der Konservativen bei einer Wahl durchgesetzt, bei der nur Mitglieder der konservativen Partei abstimmen durften – nur 0,4 Prozent der Wählerschaft. Damit ist die turbulente Ära Johnson zwar zu Ende, aber die Partei ist weiter tief gespalten. Die Situation der Tories spiegelt den Zustand des Landes wider, das durch die Wirtschaftskrise und den katastrophalen Brexit, den die Konservative Partei David Camerons angezettelt hatte, in eine tiefe Instabilität gestürzt ist.

Die Folgen dieses populistischen Abenteuers sind auch politisch verheerend: Truss wird die vierte Mieterin in der Downing Street in sechs Jahren sein. Sie übernimmt die Führung in einem kritischen Augenblick des Landes. Zu den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine kommen die neue Unabhängigkeitsherausforderung Schottlands und die Gefahr eines Handelskrieges mit der EU hinzu. Und die Labour Party hat in Umfragen einen Vorsprung von zehn Prozent auf die Tories."

"Neue Zürcher Zeitung":

"Es ist gut, dass nach dem überbordenden Kurzfristdenken und Opportunismus ihres Vorgängers eine Politikerin die Konservative Partei führen wird, die wenigstens den Anspruch einer wirtschaftsliberalen Ideologie vertritt. Doch Truss wird daran gemessen werden, wie sie das Land aus der Energie-, der Wirtschafts-, der Kaufkraft-, der Gesundheitskrise führen wird. Und dafür fehlt ihr nicht nur das Geld, knapp ist auch die Zeit. Spätestens Ende 2024 muss sie sich der nächsten Parlamentswahl stellen. Mit den Stimmen der Parteimitglieder allein, die nicht einmal ein halbes Prozent der Wählerschaft ausmachen, wird sie diese nicht gewinnen. Wenn Truss länger an der Macht bleiben will, muss sie eine viel breitere Wählerschaft von sich überzeugen. Die konservative Fraktion im Unterhaus blickt bereits nervös auf diesen Termin, der über die Sitze der einzelnen Abgeordneten entscheiden wird."

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