Täglich neue Berichte zu Kriegsverbrechen: Ruf nach Sondertribunal
Die ukrainische Menschenrechtlerin Tetiana Pechonchyk fordert ein internationales Sondertribunal.
Von Floo Weißmann
Alpbach – Ermittler und Menschenrechtler in der Ukraine versinken in der schieren Menge an Berichten über Kriegsverbrechen. Das sagte die ukrainische Aktivistin Tetiana Pechonchyk am Rande des Europäischen Forums Alpbach der TT. „Die Grausamkeit ist überwältigend. Man kann sich schwer vorstellen, dass ein Mensch solche Dinge tun kann, wie sie die Russen ukrainischen Zivilisten antun.“ Die Rede ist unter anderem von Entführungen, Folter und Exekutionen.
Pechonchyk leitet das Menschenrechtszentrum ZMINA in der Ukraine. Ihre Organisation arbeitet mit 29 anderen NGOs sowie Ermittlern der nationalen Behörden und des Weltstrafgerichtshofs zusammen, um Zehntausende Berichte über Kriegsverbrechen zu untersuchen.
Schon jetzt laufen 28.000 formale Strafverfahren, berichtet Pechonchyk. Die Zahl steigt täglich, und wenn die Ermittler einmal Zugang zu den derzeit besetzten Gebieten erhalten – etwa Mariupol –, erwartet Pechonchyk eine ganze Welle von weiteren Berichten und Verfahren.
„Wir dokumentieren alle Verbrechen, auf die wir stoßen – unabhängig davon, wer sie verübt hat“, betont sie. Fast alle würden aber – mutmaßlich – von der russischen Seite verübt. Es gebe auch ukrainische Kollaborateure, sagt Pechonchyk, „aber das sind seltene Fälle, weil nicht viele Leute in den besetzten Gebieten bereit sind, mit den Russen zu kooperieren“.
Die Aktivistin verweist auf die ersten Urteile gegen russische Soldaten und fordert, Verdächtige von einem möglichen Gefangenenaustausch auszunehmen. Das ukrainische Strafgesetzbuch erlaubt es außerdem, Verfahren in Abwesenheit zu führen.
Die große Frage sei aber, ob jene zur Verantwortung gezogen werden, die die Befehle gegeben haben. Im Fall von Kremlchef Wladimir Putin etwa gibt es einige Hürden. Erstens genießt er als Staatschef diplomatische Immunität und kann deshalb nicht von einem Gericht der Ukraine angeklagt werden. Zweitens ist auch die Zuständigkeit des Weltstrafgerichtshofs (ICC) umstritten, weil Russland dessen Statut nicht unterzeichnet hat. Drittens darf der ICC laut Statut zwar Kriegsverbrechen verfolgen, nicht aber das Verbrechen der Aggression.
Pechonchyk fordert deshalb die Einrichtung eines internationalen Sondertribunals zur Frage der Aggression. „Das sollte kein langer Prozess sein, weil die Beweislage offensichtlich ist.“ Wirft das Tribunal dann Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg vor, wäre es in der Folge auch juristisch leichter, Kriegsverbrechen zu verfolgen, die im Rahmen dieser Aggression begangen wurden.