„Ein Kind unserer Zeit“: Von der Gefährlichkeit des Daseinskampfes
Stephanie Mohr sticht mit ihrer Inszenierung von Horváths „Ein Kind unserer Zeit“ im Theater in der Josefstadt tief ins Fleisch der Gegenwart
Von Bernadette Lietzow
Wien – „Ich mag keine Seele leiden – auch mich nicht. Eigentlich hasse ich alle.“ Zusatz: „Nur unseren Hauptmann nicht.“ Es ist ein junger Soldat ohne Namen, der diese fatalen Sätze spricht, die seine psychische wie soziale Not zum Ausdruck bringen. Ödön von Horváth lässt diesen Mann in seinem letzten Roman antreten und in einer Art innerem Monolog sein Leben berichten, das entlang von Arbeitslosigkeit, Militärdienst und selbst verübten Kriegsgräueln tragisch enden wird.
In „Ein Kind unserer Zeit“, 1938 posthum nach dem Unfalltod im Pariser Exil veröffentlicht, zeichnet Horváth mithilfe seiner Figur das eindringliche Porträt einer Generation, die, traumatisiert von eigenen und den Erfahrungen der Eltern im und nach dem Ersten Weltkrieg, in den Parolen und Angeboten der Nationalsozialisten im Wortsinn ihr Heil suchen.
Zu Bühnenehren gelangte der wahrhaft zeitlose Roman nun am Theater in der Josefstadt, in der Bearbeitung von Stephanie Mohr, die auch die Regie verantwortet. Es sind vier Frauen, denen Mohr die vielen, ob ihrer Knappheit, verzweifelten Härte und offensichtlichen Hilflosigkeit erschreckenden Worte in die Münder legt. Diese Besetzung ist, wie man sekundenschnell begreift, kein aktuellen Debatten geschuldeter Firlefanz, sondern entfaltet in der Loslösung der Rolle(n) vom Geschlecht große Energie und Intensität. Katharina Klar, Martina Stilp, Susa Meyer und Therese Affolter erwecken den Soldaten zum Leben und auch jene über die Erzählung des Protagonisten vermittelten Figuren von Hauptmann, Artistin, vom Kassenfräulein am Jahrmarkt, auf die der junge Mann ein Auge geworfen hatte, bis hin zum kleinen Kind, das den Erfrorenen im Park entdeckt.
Gehüllt in fragmentarische wie armselige Militärkleidung nehmen sich die vier fabelhaften Darstellerinnen, gemeinsam wie allein, einen bemerkenswerten Bühnenraum. Miriam Busch, auch für die Kostüme zuständig, setzt auf einen nahezu ständig rotierenden, gewaltigen Zylinder, dessen Öffnung den Blick auf ein mit unterschiedlichsten Türen und einem Baumskelett versehenes Inneres zeigt. Lichterkette, Wichtel und rosa Schweinchen genügen als Jahrmarkts-Kolorit, ebenso wie der orange Kimono der alternden Trapezkünstlerin oder ein paar rostige Stahlhelme.
Die gelungene Ausstattung begleitet das kraftvolle Spiel, in das diese Inszenierung mithilfe von Klar, Affolter, Meyer und Stilp investiert und das darüber hinwegtröstet, dass ein mutigerer Zugriff im Sinn von Straffung und Konzentrierung der Romanvorlage dem Abend gut angestanden wäre. In jeden Fall ist „Ein Kind unserer Zeit“, tragisch genug, ein Stück „unserer Zeit“, die „Säuberungen“, die Horváths Soldat während des Überfalls auf ein fremdes Land durchführt, finden aktuell seitens der russischen Invasoren in der Ukraine statt …Großer Applaus beendete den Premierenabend.