Krieg in Ukraine

Kiew meldete Rückeroberung von 20 Ortschaften seit Anfang der Woche

Die Region Charkiw ist derzeit hart umkämpft. Ukrainische Truppen sollen Berichten zufolge weit vorgedrungen sein.
© IMAGO/David Ryder

Russische Truppen wurden bei Charkiw von einem ukrainischem Vorstoß überrascht. USA und UNO sind besorgt: Bis zu 1,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sollen inhaftiert und verschleppt worden sein.

Kiew, Moskau, New York – Seit Anfang der Woche hat die Ukraine nach eigenen Angaben im Gebiet Charkiw im Osten des Landes über 20 Orte von den russischen Besatzern befreit. "Zum jetzigen Zeitpunkt sind unsere Soldaten bis zu 50 Kilometer tief in die Verteidigungslinien des Gegners vorgedrungen", sagte Generalstabsvertreter Olexij Hromow am Donnerstag in Kiew. Aktuell würden in den befreiten Orten "Säuberungen vom Gegner" andauern. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Auch in der Nähe von Kramatorsk im Gebiet Donezk hätten ukrainische Einheiten ihre Positionen um bis zu zwei Kilometer verbessern können. Bei Slowjansk seien die Russen um bis zu drei Kilometer zurückgedrängt und das Dorf Oserne befreit worden.

Gebietsgewinne von mehr als 700 Quadratkilometer

Im südukrainischen Gebiet Cherson seien die russischen Truppen an mehreren Abschnitten um zwei und bis zu mehreren Dutzend Kilometer zurückgedrängt worden. Insgesamt seien Gebietsgewinne von mehr als 700 Quadratkilometer erzielt worden. An den anderen Frontabschnitten bestehe weiter eine "schwierige, jedoch nicht kritische Situation". Die russischen Einheiten würden ihre Angriffe fortsetzen.

Seit dem 24. Februar wehrt die Ukraine eine russische Invasion ab. Große Teile der Ost- und Südukraine sind seitdem von der russischen Armee erobert worden. Die Ukraine führt eine Gegenoffensive unter anderem im besetzten Gebiet Cherson.

Die russischen Besatzer evakuierten unterdessen nach dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive im gebiet Charkiw laut eigenen Angaben Frauen und Kinder aus der Stadt Kupjansk. Laut russischen Kriegskorrespondenten drang die ukrainische Armee bei der Stadt Balaklija in russisches Gebiet vor. Die Vorstöße bei Balaklija zielen auf Kupjansk. Die Stadt gilt als strategisch wichtig für den Nachschub der russischen Truppen, die im Norden auf den Donbass zumarschieren.

"Die Lage in der Stadt Kupjansk ist heute so, dass wir einfach gezwungen sind, die Evakuierung der Bevölkerung - zumindest der Frauen und Kinder - zu gewährleisten, weil die Stadt Raketenangriffen der ukrainischen Militärverbände ausgesetzt ist", sagte der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge.

Weiter Kämpfe bei Atomkraftwerk

Zu schweren Gefechten kam es nach ukrainischen Angaben erneut auch in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja. Der Generalstab des Militärs erklärte am Donnerstag früh, in den vergangenen 24 Stunden habe es Angriffe auf Dörfer und Ortschaften unter anderem mit Panzern und Granatwerfern gegeben. Regionalgouverneur Walentyn Resnitschenko schrieb auf dem Nachrichtendienst Telegram, russische Truppen hätten in der Nacht die Stadt Nikopol vier Mal mit Raketen und schwerer Artillerie angegriffen. Mindestens elf Gebäude seien beschädigt worden. Der Chef des Regionalrats von Dnipro, Mykola Lukaschuk, erklärte ebenfalls auf Telegram, Nikopol werde von russischen Truppen aus der Stadt Enerhodar heraus beschossen.

In Enerhodar liegt das AKW Saporischja, das von russischen Truppen kontrolliert wird. Russland und die Ukraine haben sich gegenseitig vorgeworfen, die Anlage zu beschießen. Am Donnerstag meldete die russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf den von Russland eingesetzten Chef der Verwaltung in Enerhodar, Alexander Wolga, die Ukraine habe das AKW nicht mit Artillerie angegriffen. In den vergangenen zwei Tagen seien aber Geschosse von Drohnen auf das AKW-Gelände abgefeuert worden.

Die Ukraine hatte am Mittwoch erklärt, sie erwäge eine Stilllegung der Anlage, um eine Atomkatastrophe zu verhindern. Sie forderte zudem Bewohner auf, das Gebiet um das Atomkraftwerk zu verlassen. Dnipro, die Stadt Saporischschja, Nikopol und Enerhodar liegen alle im Südosten der Ukraine am Ufer des Dnjepr, der bei Cherson ins Schwarze Meer mündet.

Aufräumarbeiten in Charkiw. Zahlreiche Gebäude sind von den Bomben gezeichnet.
© IMAGO/David Ryder

Hinweise: Ukrainische Kinder nach Russland verschleppt

Die UNO hat unterdessen nach eigenen Angaben Hinweise darauf, dass das russische Militär ukrainische Kinder nach Russland verschleppt und zur Adoption freigibt. "Unbegleitete Minderjährige" würden "glaubhaften" Hinweisen zufolge zwangsweise in russisch besetzte Gebiete oder nach Russland umgesiedelt, teilte am Mittwoch (Ortszeit) das UNO-Menschenrechtsbüro in New York mit.

Die stellvertretende UNO-Generalsekretärin für Menschenrechte, Brands Kehris, sagte vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, ihr Büro sei "besorgt" darüber, dass die russischen Behörden ein "vereinfachtes Verfahren" eingeführt hätten, über das ukrainischen Kindern ohne elterliche Fürsorge die russische Staatsbürgerschaft verliehen werde - und dass diese Kinder "für eine Adoption durch russische Familien infrage kommen".

Kehris zufolge haben die russischen Besatzer im Rahmen eines als "Filtration" bezeichneten Programms Zentren eingerichtet, in denen ukrainische Zivilisten durchsucht und ihre persönlichen Daten gesammelt werden. Die Menschen müssten sich körperlichen Durchsuchungen unterziehen und sich dafür in manchen Fällen vollständig entkleiden. Außerdem würden ihre Mobilgeräte durchsucht und persönliche sowie biometrische Daten erfasst.

Es gebe "glaubwürdige" Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen bei diesen Prozeduren. Besonders besorgt sei ihr Büro wegen der Gefahr des sexuellen Missbrauchs, der Mädchen und Frauen während der "Filtration" ausgesetzt seien, sagte Kehris.

Diese Kontrollen fänden bei Menschen statt, die ein Kampfgebiet verlassen oder die Gebiete unter russischer Kontrolle durchqueren wollten, berichtete die Vize-Generalsekretärin. Ukrainische Bürger, denen Russland eine Nähe zur Regierung oder den Streitkräften Kiews vorwerfe, seien gefoltert und in russische Strafkolonien verschickt worden.

Washington wirft Moskau "Filtrationen" vor

Die US-Regierung beschuldigte das Büro des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die Zwangsumsiedlungen Tausender Ukrainer nach Russland selbst zu organisieren. Auch ein Sprecher des Außenministeriums in Washington warf Moskau "Filtrationen" in besetzten Gebieten vor. Insbesondere zielten diese Prozeduren auf Menschen, die eine Gefahr für die russische Herrschaft darstellen könnten.

Die US-Regierung verfüge über Informationen, dass Mitarbeiter des russischen Präsidentenbüros "Listen von Ukrainern" anlegten, die einer "Filtration" zu unterziehen seien, sagte der Sprecher. Der Kreml erhalte zudem Berichte über Ausmaß und Fortschritt dieser Prozeduren.

Der russische UNO-Botschafter Wassili Nebensia wies die "unbegründeten" Anschuldigungen zurück und bezeichnete sie als "Legende". Freiwillig nach Russland fliehende Ukrainer würden lediglich registriert. "Soweit wir es beurteilen können, handelt es sich dabei um ein ähnliches Verfahren wie in Polen oder anderen EU-Ländern", sagte Nebensia.

Der Chef der Betreibergesellschaft des Atomkraftwerks Saporischschja, Petro Kotin, beschuldigte unterdessen die russischen Besatzer, ukrainische Mitarbeiter verschleppt, gefoltert und getötet zu haben. "Etwa 200 Leute sind bereits inhaftiert worden, von einigen wissen wir nicht, was mit ihnen passiert ist, es gibt keinen Hinweis, wo sie sind", sagte der Chef von Energoatom den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Einige Mitarbeiter seien getötet worden, sagte Kotin. "Wir wissen, dass Menschen gefoltert worden sind". Dem Energoatom-Chef zufolge versuchen die russischen Besatzer herauszufinden, welche Mitarbeiter pro-ukrainisch sind. "Es ist sehr schwierig für unser Personal, da zu arbeiten", sagte Kotin. Doch die Mitarbeiter wüssten, dass es wichtig für die nukleare Sicherheit und für den Brandschutz sei, vor Ort zu bleiben. "Sie erfüllen ihre Pflicht." (APA/dpa/Reuters)

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