USA sehen bedeutende Fortschritte in Ukraines Gegenoffensive
US-Außenminister Antony Blinken bescheinigt den ukrainischen Streitkräften bei ihrer Gegenoffensive "bedeutende Fortschritte". "Ihr Vorgehen war sehr systematisch geplant und wurde natürlich von den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern unterstützt, um sicherzustellen, dass die Ukraine über die Ausrüstung verfügt, die sie zur Durchführung dieser Gegenoffensive benötigt", sagte Blinken auf einer Pressekonferenz am Montag (Ortszeit) in Mexiko.
Die ukrainische Offensive gegen die russischen Streitkräfte befinde sich noch im Anfangsstadium, es seien aber bereits bedeutende Fortschritte erzielt worden. Angesichts der Verluste, die Russland erlitten habe, kann und sollte Russland dem Ganzen ein Ende setzen, sagte Blinken.
Nach russischen Raketentreffern auf die Stromversorgung in der Ukraine forderte Präsident Wolodymyr Selenskyj indes eine schnellere Lieferung von Luftabwehrwaffen. Die Hilfe internationaler Partner für die Ukraine müsse aufgestockt werden, sagte er am Montag in seiner allabendlichen Videoansprache. "Gemeinsam können wir den russischen Terror überwinden."
Russische Raketentreffer auf ein Kraftwerk bei Charkiw hatten am Sonntagabend große Teile des Stromnetzes in der Ostukraine zeitweise lahmgelegt. "Hunderttausende Ukrainer fanden sich im Dunkeln wieder - ohne Strom. Häuser, Krankenhäuser, Schulen, kommunale Infrastruktur", sagte Selenskyj. "Russische Raketen treffen genau jene Objekte, die absolut nichts mit der Infrastruktur der Streitkräfte unseres Landes zu tun haben." Er deutete den Beschuss als Rache für den Vormarsch der ukrainischen Armee im Gebiet Charkiw.
Die Armee habe seit Anfang September bereits mehr als 6.000 Quadratkilometer im Osten und Süden von den russischen Besatzern zurückerobert, sagte der Präsident. Am Sonntag hatte der ukrainische Oberkommandierende General Walerij Saluschnyj, mitgeteilt, seine Truppen hätten in diesem Monat mehr als 3.000 Quadratkilometer zurückerobert.
Der österreichische Militär-Stratege Berthold Sandtner sprach in der ZiB2 von einem "Wendepunkt". "Wenn man aber auf ein schnelles Kriegsende hofft, hofft man umsonst", sagte der Oberst in der ORF-Sendung zur aktuellen Kriegssituation weiter. Er meinte, dass die Russen vom raschen ukrainischen Vormarsch überrascht worden seien, auch weil es "keine Tiefe in der Verteidigung" gebe und die Moral der russischen Soldaten im Schwinden begriffen sei. Deshalb sei den Russen oft nur die Flucht geblieben, erklärte der Militär-Experte. Wie Russlands Präsident Wladimir Putin auf die neue Situation reagiere, sei noch offen, ein Atomschlag sei "hoffentlich keine Option".
Nach Einschätzung der US-Armee haben viele russische Soldaten, die sich auf dem Rückzug aus dem Großraum Charkiw befinden, das Land verlassen. Große Teile dieser Truppen hätten die Grenze überquert und seien nach Russland zurückgekehrt, sagte ein hochrangiger US-Militärvertreter. Zahlen nannte der US-Vertreter nicht.
Die ukrainischen Truppen durchkämmen die zurückeroberten Gebiete im Osten nach Kollaborateuren der russischen Besatzungsmacht. Außerdem würden Minen geräumt, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht Montagabend mit.
Im Kiewer Lagebericht am Montag wurden auch Fotos von ukrainischen Soldaten in Sjwatohirsk im Gebiet Donezk gezeigt. Eine Bestätigung für die Einnahme der Stadt mit einem wichtigen orthodoxen Kloster gab es aber nicht. Der Generalstab berichtete von Kämpfen am Montag fast entlang der gesamten Frontlinie im Osten. Mehrere Angriffe der russischen Armee seien abgewehrt worden. Die eigene Luftwaffe und Artillerie habe mehrere russische Kommandopunkte und Depots zerstört.
Aus der Feindbeobachtung über die Front hinweg meldete der Kiewer Generalstab, dass Russland keine neu zusammengestellten Truppen mehr in die Ukraine entsende. Als Grund wurde genannt, dass viele Freiwillige unter dem Eindruck hoher Totenzahlen einen Einsatz in der Ukraine verweigerten. Dafür gab es keine russische Bestätigung.
In einer zurückeroberten Ortschaft bei Charkiw wurden laut Behördenangaben vier Leichen mit "Spuren von Folter" entdeckt. Erste Ermittlungen wiesen darauf hin, dass die in Salisnytschn gefundenen Menschen "von russischen Soldaten während der Besetzung des Ortes" getötet worden seien, schrieb die regionale Staatsanwaltschaft am Montag auf Facebook. Drei der Leichen seien auf Privatgrundstücken gefunden worden, eine auf einem Fabrikgelände nahe dem Bahnhof.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatten die Behörden nach der ukrainischen Rückeroberung mehrerer Ortschaften Hinweise auf die Tötung mehrerer Bürger durch russische Soldaten erreicht. Die Leichen würden nun durch Rechtsmediziner untersucht, erklärte die Strafverfolgungsbehörde weiter. Es werde wegen Mordes und "Verstößen gegen das Kriegsrecht" ermittelt.
Am Freitag hatte die Staatsanwaltschaft bereits aus dem ostukrainischen Dorf Hrakowe den Fund zweier Leichen mit Folterspuren und Einschusslöchern im Hinterkopf gemeldet. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International appellierte am Montag an die ukrainischen Behörden, dem Sammeln von Beweisen für Kriegsverbrechen in den von Russland zurückeroberten Gebieten "Priorität einzuräumen". Da diese Aufgabe aber "enorm aufwändig" sei, müsse die internationale Gemeinschaft Kiew hierbei unterstützen, erklärte Amnesty weiter.
Russland wird bereits die Ermordung von Zivilisten in der Region rund um die Hauptstadt Kiew vorgeworfen, aus der sich russische Truppen Ende März zurückgezogen hatten. Insbesondere in der Stadt Butscha waren zahlreiche Leichen von Zivilisten entdeckt worden. Moskau hat jegliche Kriegsverbrechen stets bestritten und von "Fälschungen" gesprochen.