Selenskyj: Kontrolle über 4000 Quadratkilometer zurückerobertes Land
Das Vorrücken der ukrainischen Armee und der Rückzug russischer Soldaten lassen eine Wende im Krieg möglich erscheinen. In Russland kippt die Stimmung, immer mehr Lokalpolitiker sprechen sich gegen Putin aus.
Kiew – Die Ukraine hat nach Angaben des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mehr als 4.000 Quadratkilometer des von den russischen Streitkräften zurückeroberten Territoriums vollständig unter Kontrolle. Das Land sei auch dabei, seine Kontrolle über weitere 4.000 Quadratkilometer zu stabilisieren, sagt Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache. Am Montag hatte er erklärt, die Ukraine habe bei ihrer jüngsten Gegenoffensive 6.000 Quadratkilometer zurückerobert.
Ukrainische Beamte weisen jedoch darauf hin, dass es wichtig ist, zwischen der Einnahme von Territorium und der Gewährleistung der völligen Sicherheit dieses Territoriums zu unterscheiden. 4.000 Quadratkilometer entspricht der Fläche von knapp 750.000 Fußballfeldern.
Bereits zuvor hatte die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland weitere Geländegewinne im Nordosten des Landes gemeldet. Demnach zogen sich russische Truppen nach ihrer Niederlage in der Region bei Charkiw am Dienstag aus ersten Orten im Nachbargebiet Luhansk zurück. Die USA dämpften nach dem ukrainischen Vormarsch jedoch die Euphorie: Die Fortschritte seien bedeutsam, doch sei es zu früh, die weitere Entwicklung zu beurteilen, sagte US-Außenminister Antony Blinken in Mexiko.
Der Russland-Experte Gerhard Mangott sprach am Dienstagabend in der ORF-ZiB 2 von einem eklatanten Versagen der gesamten russischen Militärführung Russlands. Sie habe große strategische Fehler gemacht. Zudem hätten Versuche, nach großen personellen Verlusten Freiwillige oder gar Gefängnisinsassen für die Armee zu rekrutieren, die russischen Streitkräfte nicht gestärkt.
📽️ Video | Zur Kritik an der russischen "Militäroperation"
Generalmobilmachung könnte Stimmung kippen
Mangel an Verpflegung oder gar Wasser untergrabe zudem die Moral einer Truppe, die nicht wisse, warum sie in der Ukraine "gegen ein Brudervolk" kämpfen müsse. Eine Generalmobilmachung in Russland könne die Stimmung in Russland aber zum Kippen bringen, so Mangott, wenn plötzlich "die Söhne und Enkel" an die Front beordert würden. Einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen beschrieb Mangott als riskant, da er Putin diskreditieren würde. Selbst China würde so einen Schritt kritisch sehen, meinte der Experte sinngemäß.
Mithilfe westlicher Waffen will Kiew die Regionen Luhansk und Donezk zurückerobern. Russland hatte die vollständige Einnahme von Luhansk im Juli gemeldet. In Donezk halten die Ukrainer eigenen Angaben zufolge derzeit rund 40 Prozent des Gebiets.
Die russische Führung um Präsident Wladimir Putin zeigte sich trotz der Rückschläge unaufgeregt. Es sei keine Generalmobilmachung geplant, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut Agentur Interfax. Doch werden in Moskau Rufe nach Konsequenzen lauter - darunter auch nach einer teilweisen oder vollständigen Mobilmachung, um die ausgegebenen Ziele der "Spezialoperation" zu erreichen.
Immer mehr Lokalpolitiker fordern Putins Rücktritt
Mehr als ein halbes Jahr nach dem Einmarsch in die Ukraine haben Dutzende Lokalpolitiker in Russland den Rücktritt von Kremlchef Wladimir Putin gefordert. Es kämen weiter neue Unterstützer hinzu, twitterte die Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, Xenia Torstrem, am Dienstag. "Wir finden, dass die Handlungen von Präsident W. W. Putin Russlands Zukunft und seinen Bürgern schaden", heißt es in der Petition. Mehrt als 40 Lokalpolitiker sollen unterschrieben haben.
Bereits in der vergangenen Woche hatten mehrere Moskauer Politiker ein ähnliches Rücktrittsgesuch an Putin gerichtet. "Lieber Wladimir Wladimirowitsch", heißt es in dem Schreiben der Abgeordneten des Lomonossow-Bezirks: "Sie hatten in der ersten und teilweise in der zweiten Amtszeit gute Reformen, aber danach ging irgendwie alles schief." Putins Rhetorik sei von "Intoleranz und Aggression" durchsetzt und werfe Russland zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, kritisierten die Unterzeichner weiter. "Wir bitten Sie (...), Ihren Posten zu räumen, da Ihre Ansichten und Ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind."
Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften äußerst gering sein, dennoch sind sie nicht ungefährlich. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor. Medienberichten zufolge laufen etwa bereits Ermittlungen gegen mehrere Petersburger Politiker, die kürzlich eine Anklage Putins wegen Hochverrats forderten – mit Blick auf den von ihm angeordneten Krieg. Ihnen wird nun die "Diskreditierung" von Russlands Streitkräften vorgeworfen – wofür schlimmstenfalls viele Jahre Straflager drohen.
Zugleich gibt es Hinweise auf vermehrte Kritik an Putin. Dutzende Lokalpolitiker in Russland forderten seinen Rücktritt. Es kämen neue Unterstützer hinzu, twitterte die Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, Xenia Torstrem. Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften aber gering sein. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor.
Auch die strategische Lage nach den jüngsten Erfolgen der Ukraine ist nicht leicht einzuschätzen. "Wir haben eindeutig bedeutende Fortschritte bei den Ukrainern gesehen, insbesondere im Nordosten", meinte US-Außenminister Blinken in Mexiko und lobte den Mut der Ukrainer. Doch fügte er hinzu, es sei zu früh zu sagen, wie sich die Lage weiterentwickeln werde. "Die Russen haben in der Ukraine weiter sehr umfangreiche Streitkräfte sowie Ausrüstung, Waffen und Munition."
Nach Einschätzung der britischen Geheimdienste sind führende Einheiten der russischen Armee jedoch enorm geschwächt. Betroffen sei auch die Erste Gardepanzerarmee, die zu den prestigeträchtigsten Einheiten des russischen Militärs gehört. Teile dieser Einheit hätten sich vergangene Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen, hieß es.
US-Regierung sieht Momentum für ukrainisches Militär
Die US-Regierung sieht angesichts militärischer Erfolge der Ukraine eine neue Dynamik im Krieg mit Russland. "Ich denke, was Sie sehen, ist sicherlich eine Verschiebung, ein Momentum der ukrainischen Streitkräften, insbesondere im Norden", so der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Dienstag in Washington. Er wolle es aber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj überlassen, zu entscheiden, ob tatsächlich ein Wendepunkt erreicht sei.
"Ich möchte nicht für das ausländische Militär sprechen, aber ich meine, im Norden haben wir gesehen, wie die Russen ihre Verteidigungspositionen evakuiert und sich zurückgezogen haben", sagte Kirby weiter. Die Russen hätten ihre Kampfpositionen verlassen und ihre Vorräte zurückgelassen. "Sie nennen es eine Neupositionierung, aber es ist sicher, dass sie sich angesichts der ukrainischen Streitkräfte, die eindeutig in der Offensive sind, zurückgezogen haben." Kirby betonte gleichzeitig, dass Russland weiterhin große militärische Fähigkeiten habe.
Mit Blick auf die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus sagte Kirby, dass es schwierig sei, über eine Motivation für das erneute Aufflammen des Konflikts zu sprechen. Russland gilt traditionell als Schutzmacht Armeniens im Kaukasus. Das russische Militär ist wegen des seit einem halben Jahr laufenden Angriffskriegs in der Ukraine aber gebunden. Es sei daher möglich, dass einige Anführer der Meinung seien, dass Russland gerade anderweitig beschäftigt sei, sagte Kirby auf die Frage, ob Aserbaidschan dies aktuell ausnutze. "Aber auch hier sollten wir mit Spekulationen vorsichtig sein."
📽️ Video | Militärstratege Sandtner in der ZiB2:
AKW Saporischschja wieder besser mit Strom versorgt
Alle drei Notstromleitungen des von Russland kontrollierten Kernkraftwerks Saporischschja in der Ukraine sind wiederhergestellt worden. Eine von ihnen versorge die Anlage mit externem Strom, den es für die Kühlung und andere wichtige Sicherheitsfunktionen benötigt, und die zwei anderen würden in Reserve gehalten, erklärte die Internationale Atomenergiebehörde. Die erste dieser Leitungen wurde am Samstag wieder in Betrieb genommen.
Die Ukraine geht davon aus, dass die Zahl der russischen Anschläge auf ihre Energie-Infrastruktur zunehmen werde. Das sagte Mychajlo Podoljak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Man sei auf verschiedene Szenarien vorbereitet. Die ukrainische Bevölkerung müsse sich auf Probleme bei der Strom-und Wärmeversorgung in diesem Winter einstellen. (dpa/APA/AFP/Reuters)
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