Trauer um Jean-Luc Godard: Die permanente Revolte der denkenden Bilder
Jean-Luc Godard prägte die Filmgeschichte wie kaum ein anderer. Nun ist der Kinoerneuerer und Kulturrebell 91-jährig gestorben.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – Vor einer Ewigkeit, vor mehr als 60 Jahren, in Jean-Luc Godards Film „Außer Atem“, antwortet der Filmregisseur Jean-Pierre Melville auf die Frage, was er im Leben erreichen wolle: „Unsterblich werden. Und dann sterben.“ Das ist, wie so vieles in „Außer Atem“, zunächst einmal ein Witz. Und, wie meistens bei Godard, hat der Witz einen unbanalen Hintersinn – weil sich das, was Melville sagt, auf die Kunstform umlegen lässt, der sich Godard verschrieben hat: Im Kino schließen sich Sterben und Unsterblichkeit nicht aus – im Gegenteil: Wer, wie Jean Paul Belmondo in „Außer Atem“ zum Beispiel, besonders schön stirbt, lebt ewig.
Jean-Luc Godard war Ende 20, als er mit „Außer Atem“ seinen ersten Langfilm drehte. François Truffaut hatte ihm einen Drehbuchentwurf überlassen. Godard hat sich lose daran orientiert. In einer Szene wird dem von Belmondo gespielten Gauner Michel ein Exemplar der Filmzeitschrift Cahier du cinéma angeboten. „Sie haben doch nichts gegen die Jugend?“, fragt das Mädchen. „Ich mag die Alten“, sagt Michel. Noch so ein Witz. Schließlich war Godard einer der jungen Wilden, der als Kritiker für die Cahiers ein anderes, ein neues, ein lebendigeres Kino gefordert hat, das sich selbstbewusst auf die Schultern jener Riesen stellte, die von der Filmgeschichtsschreibung bis dahin ignoriert wurden. Hitchcock, Howard Hawks, Nicholas Ray – Godard und seine Mitstreiter deuteten Hollywoods Handwerker zu Großkünstlern um. Und obwohl die Helden von einst noch durch Godards späte „Geschichte(n) des Kinos“ (1988–1997) geistern, ganz geheuer war ihm die „Politique des Auteurs“, die er mit Truffaut, Claude Chabrol und Éric Rohmer auf den Weg brachte, nie.
Als „Außer Atem“ im Frühjahr 1960 in die Kinos kam, war der Film vielleicht ein befreiender Schock, womöglich sogar eine Revolution. Sieht man ihn heute, ist der frische Wind dieser „Nouvelle Vague“ noch spürbar. Da wirft einer die Gepflogenheiten und die Grammatik des Erzählkinos über Bord: Unerwartete Szenenwechsel, Achsen- und Bildsprünge, Schriftinserts, geklaute Dialoge und Kamerafahrten ohne Dolly oder Kran, sondern mit einem Kinderwagen, der vom Kopfsteinplaster der Champs-Élysées durchgerüttelt wurde. Gerade weil der Film ausstellt, dass er Film ist, wirkt alles wahrhaftiger und intensiver. Drei Jahre nach „Außer Atem“ in „Die Verachtung“ machte dann schon die erste Szene – eine Kamera fährt auf die Kamera zu und der Film nimmt sich selbst in den Blick – klar: Hier denkt Kino über Kino nach.
Doch bei all der hochgeistigen Analyse sollte nicht vergessen werden, wie viel Spaß gerade Godards frühe Filme machen: „Außenseiterbande“ (1964) zum Beispiel oder die garstige Weltuntergangsgroteske „Weekend“ (1967), mit der sich Godard erstmals vom Kino verabschiedete – und dafür eine der irrwitzigsten Kamerafahrten der Filmgeschichte in Szene setzte. Danach drehte Godard „unsichtbare Filme“, „militantes Kino“ für die „happy few“, Angriffe auf alles Hierarchische und gegen den Kapitalismus. Befreiendes Kino, radikal, aber immer auch ein bisschen besserwisserisch. Erst 1980 fand er mit „Rette sich wer kann (das Leben)“ zum Spielfilm, der sich sprichwörtlich spielerisch mit existenziellen Erfahrungen auseinandersetzte, zurück. Da galt Jean-Luc Godard schon als wegweisendster der wegweisendsten Regisseure des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Der Filmkritiker Bert Rebhandl hat Godards Kino als „permanente Revolte“ beschrieben. Um Grenzen des Sag- und Denkbaren hat sich der Rebell selten gekümmert – und bisweilen Verstörendes formuliert, über die Shoah zum Beispiel. Rund 140 Filme hat Jean-Luc Godard gedreht – und zuletzt als öffentliche Figur zurückgezogen am Genfer See gelebt. Als dort alle Straßen im Auftrag eines Internetdienstes fotografiert wurden, wurde er beim Verlassen eines Geschäfts verewigt. An Godard kommt selbst Google nicht vorbei.
Noch vor wenigen Tagen grüßte er beim Filmfestival von Venedig in Caril Leuthys Dokumentarfilm „Nur das Kino“ von der Ferne. Bei der Berlinale lief Anfang des Jahres Mitra Farahanis „À vendredi, Robinson“, in dem man ihn auch beim Zusammenlegen seiner Wäsche sieht. „Man ist nie traurig genug, um die Welt besser zu machen“, sagt er sich und der Kamera. Das klingt ernüchternd. Am Ende des Films lächelt Godard trotzdem ins Schwarz des Abspanns hinein. Als abgründiger Humorist ist der Kinoerneuerer und Kulturrevoluzzer Jean-Luc Godard zeit seines Lebens unterschätzt worden. Am Dienstag ist er im Alter von 91 Jahren gestorben.
1930 – 2022