Krieg in Ukraine

Selenskyj besucht befreite Gebiete, EU verlängert Sanktionen gegen Russland

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an der Front.
© STR

Die Ukraine berichtet davon, bereits 8000 Quadratkilometer an Gebieten wieder befreit zu haben, die vorübergehend von der russischen Armee kontrolliert worden waren. Nun geht es darum, die Gewinne zu sichern.

Kiew (Kyjiw)/Moskau – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich ein Bild an der Front im Osten seines Landes gemacht und vorläufig das Ziel ausgegeben, die wiedergewonnenen Gebiete zu sichern. Er besuchte am Mittwoch den strategisch wichtigen Ort Isjum südöstlich der Großstadt Charkiw, der am Wochenende von ukrainischen Streitkräften zurückerobert worden war. "Der Anblick ist schockierend." Das sei nach Butscha aber nicht verwunderlich, fügte Selenskyj hinzu.

"Dieselben zerstörten Gebäude, Menschen getötet." Selenskyj würdigte in Isjum die ukrainischen Soldaten für die Befreiung der Gebiete und wohnte einer Zeremonie bei, in der die ukrainische Flagge vor einem Gebäude der Stadtverwaltung gehisst wurde. In dem Ort war noch vielfach das "Z" zu sehen, das Symbol der russischen Streitkräfte in der Ukraine, sowie zerstörtes russisches Kriegsgerät. "Wir haben lange auf unsere Jungs gewartet", sagte die 74-jährige Ljubow Sinna. "Natürlich fühlen wir uns gut, Freude. Aber da ist auch Angst, dass die Russen zurückkommen könnten", fügte sie hinzu. "Weil wir das Ganze sechs Monate durchgestanden haben. Wir haben es in unseren Kellern ausgesessen, wir sind durch alles gegangen, was man sich nur vorstellen kann." Gas, Strom und Wasser gebe es nicht, fraglich sei, wie die Menschen jetzt durch den Winter kämen.

Wasserkraftwerk in Selenskyjs Heimatstadt von Russen angegriffen

Die zentralukrainische Industriestadt Krywyj Rih ist indes am Mittwoch nach ukrainischen Angaben von russischen Marschflugkörpern getroffen worden. Präsident Wolodymyr Selenskjyj bestätigte, dass ein Wasserkraftwerk am Fluss Ingulez beschädigt worden sei. Er sprach von einem Versuch, seine Heimatstadt unter Wasser zu setzen. Nicht verifizierte Videos zeigten, dass der Wasserstand des Ingulez rasch anstieg.

"Alles was die Besatzer können ist Panik zu säen, eine Notlage zu schaffen, Menschen ohne Licht, Wärme, Wasser oder Lebensmittel zu lassen", schrieb Selenskyj auf Telegram. "Kann uns das brechen? Keineswegs."

Durch den "massiven Raketenangriff" seien hydrotechnische Anlagen schwer beschädigt worden, teilte auch der Verwaltungschef des Gebietes Dnipropetrowsk, Valentin Resnitschenko, mit. In einigen Teilen der Stadt sei die Wasserversorgung ausgefallen.

Resnitschenko sprach von sieben Marschflugkörpern Ch-22, die aus der Entfernung von russischen Kampfflugzeugen abgefeuert worden seien. Auch die Transportinfrastruktur sei angegriffen worden. Angaben über Opfer gab es zunächst nicht. Im Präsidialamt in Kiew war die Rede von acht anfliegenden Raketen. Vizechef Kyrylo Tymoschenko sprach von einem Terrorakt, weil kritische Infrastruktur getroffen worden sei.

Ungarn sieht von Blockade von Russland-Sanktionen ab

Ungarn hat indes nun doch von einer Blockade der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland abgesehen. Das Verfahren zur Beschlussfassung sei am Mittwoch erfolgreich abgeschlossen worden, sagte eine Sprecherin der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft. Der Beschluss werde nun im Amtsblatt der EU veröffentlicht, womit die Sanktionen um ein halbes Jahr verlängert werden. Konkret geht es um Strafmaßnahmen gegen mittlerweile mehr als 1.200 Personen.

Wegen ihrer Unterstützung der Ukraine-Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin werden die Vermögenswerte der Betroffenen eingefroren. Zudem dürfen die Betroffenen nicht mehr in die EU einreisen.

Nach Angaben von EU-Diplomaten aus der vergangenen Woche wollte Ungarn eigentlich erreichen, dass die Strafmaßnahmen gegen drei russische Oligarchen aufgehoben werden. Die rechtsnationale Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban hatte zuletzt mehrere Sanktionen gegen Russland blockiert oder Änderungen erzwungen. Ohne Verlängerung wären die Sanktionen an diesem Donnerstag ausgelaufen.

📽 Video | „Ukrainische Gegenoffensive schreitet voran“

Laut Präsident bereits 8000 Quadratkilometer wieder befreit

In seiner nächtlichen Videobotschaft sagte Selenskyj, die ukrainischen Streitkräfte hätten in diesem Monat bisher rund 8.000 Quadratkilometer an Gelände befreit, offenbar zumeist in der nordöstlichen Region Charkiw an der Grenze zu Russland. In etwa der Hälfte des zurückeroberten Gebiets seien "Stabilisierungsmaßnahmen" abgeschlossen. Details nannte Selenskyj nicht.

Berichte aus den Kampfgebieten können unabhängig nicht überprüft werden. Russische Truppen, die am 24. Februar in die Ukraine einmarschiert waren, hielten vor Beginn der Gegenoffensive im Osten und Süden der Ukraine knapp 20 Prozent der Fläche des Landes besetzt.

Biden will noch nicht von Wendepunkt sprechen

US-Präsident Joe Biden äußerte sich vorsichtig zu der Frage, ob in der Ukraine in dem gut sechsmonatigen Krieg nun ein Wendepunkt erreicht sei. "Es ist klar, dass die Ukrainer bedeutende Fortschritte gemacht haben. Aber ich denke, es wird noch ein langer Weg sein", sagte er. Die US-Regierung, die Hauptunterstützer der Ukraine mit Waffen ist, will in den kommenden Tagen ein neues Militärhilfspaket ankündigen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte in ihre Rede zur Lage der Europäischen Union in Straßburg, dass die EU-Unterstützung für die Ukraine "unerschütterlich" sei. In Anwesenheit der Frau Selenskyjs, Olena Selenska, sagte sie, dass die Sanktionen gegen Russland Wirkung zeigten und nicht aufgehoben würden. Russlands Präsident Wladimir Putin werde scheitern. "Die Ukraine und Europa werden sich durchsetzen", sagte von der Leyen und kündigte an, noch am Mittwoch nach Kiew reisen zu wollen. Sie wolle mit Selenskyj über eine Annäherung der Ukraine an den EU-Binnenmarkt beraten. Erneut stellte sie dem Land dabei eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht. "Unsere Union ist ohne Sie nicht vollständig."

📽 Video | „Kritik an russischer Militäroperation“

Putin offenbar unaufgeregt und uneinsichtig

Die russische Führung um Präsident Wladimir Putin zeigte sich trotz der Rückschläge unaufgeregt. Es sei keine Generalmobilmachung geplant, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut Agentur Interfax. Doch werden in Moskau Rufe nach Konsequenzen lauter. Zugleich gibt es Hinweise auf vermehrte Kritik an Putin. Dutzende Lokalpolitiker in Russland forderten seinen Rücktritt. Es kämen neue Unterstützer hinzu, twitterte die Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, Xenia Torstrem. Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften aber gering sein. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor.

Die ukrainischen Soldaten finden in den von den Russen zurückeroberten Gebieten nicht nur ausgebrannte Fahrzeuge und zerbombte Gebäude. Auch Leichenfunde gibt es immer wieder.
© Handout / Ukrainian Presidential Administration / AFP

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sprach etwa 90 Minuten lang mit Kremlchef Putin und warnte vor weiteren Versuchen, Gebiete der Ukraine abzutrennen. "Der Bundeskanzler betonte, dass etwaige weitere russische Annexionsschritte nicht unbeantwortet blieben und keinesfalls anerkannt würden", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Die Mitteilung des Kremls zu dem Telefonat ließ auf keinerlei Einlenken Putins schließen. Der Präsident habe den Kanzler auf die "himmelschreienden Verstöße" der Ukrainer gegen das humanitäre Völkerrecht aufmerksam gemacht, hieß es. Die ukrainische Armee beschieße Städte im Donbass und töte dort Zivilisten.

Leben in Ukraine soll sich normalisieren

Die Ukraine versucht das Leben in den zurückeroberten Gebieten im Osten so schnell wie möglich wieder zu normalisieren. "Es ist sehr wichtig, dass mit unseren Truppen, mit unserer Flagge auch das normale Leben in die nicht mehr besetzten Gebiete zurückkehrt", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstagabend. Doch zugleich scheint sich die Erfahrung nach dem Abzug russischer Truppen aus der Umgebung von Kiew im Frühjahr zu wiederholen: Aus den befreiten Gebieten melden ukrainische Behörden Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrechen der Besatzer. Im Gebiet Charkiw gebe es bereits 40 Verdachtsfälle, sagte Vize-Innenminister Jewhenij Jenin.

Nach den schnellen Vorstößen ukrainischer Truppen in den vergangenen Tagen gab es in der Nacht zu Mittwoch keine Nachrichten über neue Geländegewinne. Doch die US-Regierung sieht angesichts militärischer Erfolge der Ukraine eine neue Dynamik im Krieg mit Russland, der in seinen 203. Tag geht. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) telefonierte nach monatelanger Pause erstmals wieder mit Russlands Präsident Wladimir Putin – und forderte dabei eine Lösung, die auf einem Waffenstillstand, dem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und auf der Achtung der territorialen Integrität der Ukraine basiert.

Ukraine zahlt im Osten wieder Renten

Als Beispiel für die angestrebte Normalisierung des Lebens in zurückeroberten Gebieten nannte Selenskyj in seiner Videoansprache, dass in der befreiten Stadt Balaklija im Gebiet Charkiw erstmals wieder Renten ausgezahlt worden seien – und zwar rückwirkend für fünf Monate. "In der Zeit der Besetzung konnten wir keine Zahlungen leisten." Die Ukraine werde ihre sozialen Verpflichtungen erfüllen, versprach der Präsident.

Für die Menschen soll ein normales Leben wieder beginnen: Präsident Selenskyj kündigte an, im Osten wieder Renten zu zahlen.
© BARRETO / AFP

Zu den anderen Aufgaben in dem Gebiet zählte Selenskyj die Suche nach versprengten russischen Soldaten und Sabotagegruppen sowie die Festnahme von Kollaborateuren. Die Sicherheit in den befreiten Landesteilen müsse garantiert werden.

Hinweise auf Kriegsverbrechen der russischen Besatzer gemeldet

Ebenfalls aus Balaklija kam die Nachricht, dass russische Kräfte im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten haben sollen. Im Keller seien während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow nach einem Ortstermin.

"Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen", schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien. Auch aus anderen Orten der Region gab es unverifizierte Berichte über Leichenfunde.

Nach dem Abzug russischer Truppen aus Butscha und anderen Vororten von Kiew Ende März waren dort Hunderte tote Zivilisten entdeckt worden. Moskau stritt trotz erdrückender Beweise ab, dass die Tötungen auf das Konto russischer Soldaten gingen, und sprach von einer ukrainischen Inszenierung. Die Ukraine sammelt mit internationaler Hilfe Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Vize-Innenminister Jenin sprach von bislang 40 Verdachtsfällen in der Region Charkiw. "Die Besatzer waren lange Zeit in diesem Gebiet und haben natürlich alles gemacht, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verdecken", sagte er nach Ministeriumsangaben. Es müsse alles getan werden, um Beweise zu sichern. (APA/dpa/Reuters/AFP)

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