Regierung fixiert Aus für die kalte Progression: „Es bleibt jetzt mehr vom Lohn”
Die Regierungsspitze sieht hinter der Abschaffung der schleichenden Steuererhöhung einen "historischen Schritt". Schon kommendes Jahr würden sich die Österreicher 1,8 Milliarden ersparen.
Wien – Die Einschränkung der "kalten Progression" ist nun mehr oder weniger fix. Denn der Ministerrat hat die entsprechende Vorlage am Mittwoch abgesegnet. Nun bedarf es nur mehr eines parlamentarischen Beschlusses, damit die Österreicher steuerlich doch erheblich entlastet werden: "Es bleibt mehr vom Lohn", konstatierte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP).
Der Regierungschef sprach im Pressefoyer nach dem Ministerrat von einer nachhaltigen Entlastung und einem "historischen Schritt". Schon kommendes Jahr würden sich die Österreicher 1,8 Milliarden ersparen. 2024 seien es dann bereits 4,3 Milliarden. Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) betonte, dass man angesichts einer wohl länger hohen Inflation nicht alles mit Einmalzahlungen ausgleichen könne. Daher habe es strukturelle Maßnahmen gebraucht.
📃 Weitere Maßnahmen
Im Ministerrat hat man sich am Mittwoch zur Abschaffung der kalten Progression und einer Valorisierung der Sozial- und Familienleistungen beschlossen. Neben diesen beiden Maßnahmen werden weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht:
- Senkung des Dienstgeber-Beitrags
- Steuerfreiheit von Zuschüssen des Arbeitgebers im Rahmen von „Carsharing“
- Steuerfreies Aufladen emissionsfreier arbeitsgebereigener Kraftfahrzeuge
- Entlastungen für die Land- und Forstwirtschaft
Mit der Abschaffung möchte die Bundesregierung bis zum Jahr 2026 eine zusätzliche Wertschöpfung von rund 1% des BIP erzielen und einen Beschäftigungszuwachs von bis zu 36.700 Arbeitsplätzen schaffen.
Die "kalte Progression" ist eine schleichende Steuererhöhung. Durch Einkommenszuwächse rutschen die Lohnsteuerzahler in Steuerklassen, in denen prozentuell höhere Abgaben zu leisten sind. Damit konnte es vorkommen, dass man trotz eines nominell höheren Einkommens real sogar weniger am Konto hatte.
▶️ Die Abschaffung der kalten Progression im Detail
Die Bundesregierung spricht von einem "Meilenstein der österreichischen Steuerpolitik". Der reale Einkommensverlust der Menschen durch diese schleichende Steuererhöhung soll durch eine Anpassung der wesentlichen Elemente des Einkommensteuertarifs an die Inflationsrate abgegolten werden.
🔹 Die automatische Anpassung erfolgt in einem Ausmaß von zwei Dritteln. Basierend darauf unterliegen die Betragswerte
- der für die Anwendung des progressiven Steuertarifs maßgebenden Grenzbeträge (mit Ausnahme des für die Anwendung des Spitzensteuersatzes von 55% geltenden Betrages von 1 Mio. Euro),
- des Alleinverdiener-, des Alleinerzieher- und des Unterhaltsabsetzbetrages,
- der Verkehrsabsetzbeträge und des Zuschlags zum Verkehrsabsetzbetrag,
- der Pensionistenabsetzbeträge,
- der Erstattung des Alleinverdiener- und Alleinerzieherabsetzbetrages sowie der SV-Rückerstattung und des SV-Bonus,
- einer automatischen Inflationsanpassung im Ausmaß von zwei Dritteln der Inflationsrate, wirksam jeweils ab dem Folgejahr.
Durch die Abschaffung der kalten Progression soll eine Gesamtentlastung bis 2026 von voraussichtlich rund 20 Mrd. Euro sichergestellt werden.
🔹 Mit dem verbleibenden Drittel (617 Mio. Euro) sollen Entlastungsmaßnahmen finanziert werden:
- Die Grenzbeträge der untersten beiden Tarifstufen werden über die Höhe der Inflationsrate erhöht. Das bedeutet: Niedrige und mittlere Einkommen werden über die Inflationsrate hinausgehend entlastet.
- Auch die Absetzbeträge (Alleinverdiener- und Alleinerzieherabsetzbetrag, Verkehrsabsetzbeträge, Pensionistenabsetzbeträge) werden in voller Höhe der Inflation angepasst.
- Die sonstigen Tarifstufen der Einkommsteuergrenzbeträge werden mit Ausnahme des Spitzensteuersatzes um zwei Drittel der Inflationsrate erhöht.
Nunmehr werden die Steuergrenzen jährlich um zwei Drittel der jeweiligen Teuerung angehoben, für 2023 um 3,47 Prozent. Die beiden niedrigsten Tarifstufen werden sogar um 6,3 Prozent angehoben. Gleich bleibt die Grenze beim Spitzensteuersatz. Mit dem letzten Drittel muss die Regierung jeweils bis 15. September des Jahres beschließen, was mit dieser Summe gemacht wird. Heuer wird diese z.B. für die höhere Entlastung der niedrigeren Steuerstufen verwendet. Grundsätzlich gibt es hier aber keine Bindung für die Regierung, was mit dem Geld zu tun ist.
▶️ Die Erhöhung der Sozial- und Familienleistungen im Detail
- Kranken-, Rehabilitations- und Wiedereingliederungsgeld; Umschulungsgeld; Studienbeihilfe; Schülerbeihilfe, Kinderbetreuungsgeld und Familienzeitbonus; Familienbeihilfe, Schulstartgeld, Mehrkindzuschlag und Kinderabsetzbetrag werden anhand einer Valorisierungsautomatik erstmalig ab kommendem Jahr in voller Höher der Inflationsrate angepasst.
- Entfall der Anrechnung des Familienzeitbonus auf einen späteren Kinderbetreuungsgeldbezug zum Zweck einer Erhöhung der partnerschaftlichen Beteiligung der Väter an der Kinderbetreuung (Väteranreiz).
- Erhöhung der Zuverdienstgrenze, damit jene Eltern, die nicht von der individuellen Zuverdienstgrenze profitieren, während des Bezugs des Kinderbetreuungsgeld-Kontos mehr dazuverdienen können.
- Ausbezahlung des Schulstartgelds ab dem Jahr 2023 gemeinsam mit der Familienbeihilfe im August statt wie bisher im September.
📽️ Video | Abschaffung der "kalten Progression" durch den Ministerrat
Dass man die Abschaffung der "kalten Progression" nicht in die Verfassung schreibt, begründete Nehammer damit, dass dies wegen der dafür notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit längere Verhandlungen gebraucht hätte. Man habe aber schon 2023 starten wollen. Ohnehin würden sich künftige Regierungen schwer tun, die "schleichende Steuererhöhung" wieder einzuführen.
"Es hilft jenen, die es besonders brauchen"
Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) betonte, dass die Maßnahme tatsächlich für alle wirke und nicht nur für mittlere und höhere Einkommen: "Es hilft jenen, die es besonders brauchen", verwies der Grünen-Chef auch auf die ebenfalls vereinbarte automatische Valorisierung von Sozialleistungen wie Familien- oder Studienbeihilfe, Kinder- und Reha-Geld. Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer sah hier eine jahrzehntelange Forderung erfüllt: "Jahr für Jahr gibt es mehr Geld im Geldbörsel ohne Diskussion." 1,3 Millionen Menschen in Österreich würden profitieren.
Brunner verwies darauf, dass durch die Abschaffung der "kalten Progression" auch die Steuerpflicht später einsetze, also nicht mehr bei 11.000 Euro, sondern erst bei 11.693 Euro. Eine Durchschnittspensionistin wiederum würde sich schon kommendes Jahr 371 Euro ersparen, bis 2026 würde sich das auf 3,771 Euro erhöhen. Bei einem vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer mit Medianeinkommen seien es 2023 391 Euro, bis 2026 gesamt 4.107 Euro. So sei die Abschaffung auch "ein Akt der Fairness gegenüber dem Steuerzahlen". Denn damit sei der Staat nicht mehr der Profiteur der hohen Teuerung.
Die SPÖ stört, dass das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe wieder nicht erhöht werden - das sei "eine Katastrophe für die Betroffenen, die von Tag zu Tag ärmer werden, weil ihnen die Teuerung das Wenige, das sie haben, auch noch wegfrisst", meinte SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch. "Die Maßnahmen sind positiv, aber unvollständig", befanden auch Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl und ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian in einer Aussendung. Sie vermissen etwa eine Inflationsanpassung des Kilometergeldes und eine außerordentliche Anhebung von Arbeitslosengeld, Ausgleichszulage und Sozialhilfe.
Erfreut zeigte sich Wirtschaftskammer-Generalsekretär Karlheinz Kopf: Bürgern, aber auch einkommensteuerpflichtigen Unternehmern werde spürbar längerfristig mehr netto in der Tasche bleiben, das sorge für mehr Planbarkeit und stütze die Kaufkraft. Dieser Effekt sei auch bei den KV-Verhandlungen zu berücksichtigen, meinte Kopf: "Angesichts der hohen Inflation wird die Abschaffung der kalten Progression einkommenssichernd wirken und damit positive Effekte auf Löhne und Gehälter in Österreich haben."
Katzian stellte unterdessen gleich klar: "Wer glaubt, dass sich die ArbeitnehmerInnen die Abgeltung der kalten Progression durch niedrigere Lohnabschlüsse selber zahlen, hat die Rechnung ohne die Gewerkschaften gemacht."(TT.com, APA)
⁉️ Stichwort: Kalte Progression
Mit der kalten Progression geht es einem auf den ersten Blick paradoxen Phänomen an den Kragen: Trotz Gehaltserhöhung kann es vorkommen, dass sich Menschen weniger leisten können als zuvor. Verantwortlich dafür sind einerseits die Inflation, andererseits aber auch das "progressiv" gestaltete Steuersystem - je mehr man verdient, desto höher klettert der zur Anwendung kommende Steuersatz.
▶️ Höhere Tarifstufe, netto weniger Geld
Wie in vielen anderen Staaten auch ist der Tarif der Lohn- bzw. Einkommensteuer in Österreich "progressiv" angelegt. Das Einkommen wird (zumindest bei höheren Gehältern) in Teile zerlegt und mit nach sogenannten Tarifstufen steigenden Steuersätzen belastet. Bis zu einem jährlichen Gehalt von 11.000 Euro fallen etwa im Jahr 2022 keine Steuern an. Bei einem Gehalt zwischen 11.001 und 18.000 Euro sind erneut die ersten 11.000 Euro steuerfrei, der darüber hinausgehende Teil unterliegt einem Steuersatz von 20 Prozent. Bei einem Gehalt über 18.000 Euro bis zu 31.000 Euro gilt das Gleiche: Die ersten 11.000 Euro sind steuerfrei, der Teil zwischen 11.000 und 18.000 Euro wird mit 20 Prozent besteuert und der über 18.000 Euro hinausgehende mit 32,5 Prozent. Das setzt sich fort bis zu Gehaltsteilen über einer Mio. Euro, für die 55 Prozent an Steuern zu bezahlen sind.
Die kalte Progression schlägt nun vor allem bei jenen Menschen zu, die nahe an der Schwelle zu einer höheren Tarifstufe stehen. Wenn sie eine Gehaltserhöhung (etwa infolge der jährlichen Lohnrunden) bekommen, fallen sie in eine höhere Tarifstufe. Zumindest für einen Teil ihres Zusatzgehaltes bezahlen sie damit einen höheren Steuersatz. Folge: Von der Bruttoerhöhung bleibt netto weniger über. Je mehr Arbeitnehmer durch Lohnerhöhungen also in höhere Tarifstufen vorrücken, desto mehr schöpft der Staat von den Lohnerhöhungen ab. Diesen Effekt nennt man kalte Progression - "kalt", weil dafür keine aktive Handlung oder Steuererhöhung nötig ist.
▶️ Inflation verstärkt Effekt
Kommt zur eigentlichen kalten Progression noch eine hohe Inflation, verstärkt sich der Effekt für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Wenn etwa die Waren im Supermarkt wesentlich teurer werden, steigt nicht nur das Nettogehalt weniger stark als das Bruttogehalt - es kann sogar zu realen Lohnverlusten kommen.
Will man die kalte Progression abschaffen, müssten also die Tarifstufen bzw. in weiterer Folge auch die Absetzbeträge jährlich an die Inflation angepasst werden. Das passiert etwa in der Schweiz, Frankreich oder den USA. In Österreich hat man nun eine ähnliche Variante gewählt - zwei Drittel der jeweiligen Teuerung fließen durch Anpassung der Tarifstufen bzw. Absetzbeträge automatisch an die Steuerzahler zurück.
2023 wird etwa jene Grenze, bis zu der keine Steuern gezahlt werden müssen, von 11.000 Euro pro Jahr auf 11.693 Euro erhöht. Bei einem Gehalt zwischen 11.694 und 19.134 Euro (bisher: 18.000 Euro) sind erneut die ersten 11.693 Euro steuerfrei, der darüber hinausgehende Teil unterliegt einem Steuersatz von 20 Prozent. Bei höheren Tarifstufen passiert das gleiche, darüber hinaus werden auch die Steuersätze teils gesenkt.