Das „Menschenschwein“ und seine Mitläufer
In Feridun Zaimoglus neuem Roman „Bewältigung“ versucht sich ein Autor an einem Roman über Hitler – und scheitert beeindruckend.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – Ende Juni war Feridun Zaimoglu im Literaturhaus am Inn zu Gast. Mit der Autorin Tanja Raich und anderen Schreibenden gestaltete er einen Abend über eine Welt, die patriarchale und paternalistische Strukturen überwunden hat – und über den Weg dorthin. Auch einige Stunden davor sprach Zaimoglu über die Zukunft. Schließlich sollte in wenigen Wochen sein neues Buch erscheinen.
Feridun Zaimoglu lebt in Kiel. Die mehr als zehnstündige Zugfahrt nach Innsbruck hat er mit diesem Buch verbracht. Er ist noch einmal tief eingetaucht, in eine Geschichte, von der er sich – wie er sagt – nie mehr ganz befreien kann. „Diese Geschichte ist eine existenzielle Bedrohung“, sagt er. Und: „Ich wäre fast an ihr verreckt.“
Zaimoglu ist ein radikaler Schreiber. Die Kraft seiner Sprache muss er mit jedem Buch aufs Neue entfesseln. Um eine Sprache für seine Figuren, um die Sprache seiner Figuren zu finden, müsse er zu diesen Figuren werden, sagt er. „Anverwandlung“ nennt er dieses Verfahren. Für seinen Luther-Roman „Evangelio“ hat er das Leben in der Reformationszeit nicht nur recherchiert, er hat es gelebt – Fasten und das nächtelange Ausharren in ungeheizten Burgen inklusive. „Wenn ich über eine Magersüchtige schreibe“, sagt Zaimoglu, „treibt es auch mich an den Rand der Essstörung.“
Sein neuer Roman „Bewältigung“ – inzwischen ist er erschienen – handelt auch davon, wie ein Autor in seinem Verfahren verloren geht. „Bewältigung“ ist – wenn man so will – ein Künstlerroman. Ein norddeutscher Autor türkischer Herkunft, ein Alter Ego Zaimoglus, will begreifen, wie das, was geschehen ist, geschehen konnte. Er will Hitler begreifen, ein Hitler-Buch schreiben – und Hitler in diesem Buch „ich“ sagen lassen. Der Autor sucht Material, er sucht die Nähe zum Material – und er besucht Orte, die bis heute kontaminiert sind: Bayreuth, München, „die Hauptstadt der Bewegung“, den Obersalzberg, die Gedenkstätte in Dachau. Er setzt sich dem Material aus, verleibt es sich ein, läuft Gefahr, verloren zu gehen. Die Kontrolle verliert er auf jeden Fall. Lesend kann man den Autor dabei begleiten, wie ihn das Gift, das er sich im Willen Kunst und Klarheit zu schaffen, spritzt, vergiftet.
Als im dämmert, dass „H.“, „der Österreicher“, „das Menschenschwein“, nichts hergibt, was die schmerzvolle Anverwandlung rechtfertigen könnte, ist es schon zu spät. „H.“ ergreift immer öfter das Wort. Und er nimmt dem Autor die seinen. In „Bewältigung“ lässt sich nicht nur nachvollziehen, wie ein Autor an einem Thema scheitert, sondern auch, wie sein Schreiben im Scheitern hundsmiserabel wird: Die Sätze werden holpriger, die Sprachbilder verquerer – „das Menschenschwein“ hat das Kommando über die Erzählung übernommen. Die Einsicht, dass es über diesen jämmerlichen Mann und seine Vernichtungsfantasien, die keine Fantasien blieben, wenig zu erzählen gibt, kommt beinahe zu spät. Für den Autor im Buch. Nicht für Zaimoglu, der es kunstvoll versteht, den Blick zu weiten: „Bewältigung“ ist ein Roman über die Unmöglichkeit, diesen Roman zu schreiben. Das ist das eine. Das andere: „Bewältigung“ ist auch ein Roman über den Hitlerstaat – über die Mitläufer und Mittäter, über die Mechanik des Massenmords, über Kontinuitäten bis in die Gegenwart und die Unmöglichkeit, das in eine einfache Erzählung zu fassen.
Immer wieder wird von bestimmten Kreisen gefordert, dass irgendwann, Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs und nach Jahren forcierter Erinnerungskultur, „ein Schlussstrich“ unter der dunklen Geschichte gezogen werden soll. „Bewältigung“ – man kann den Roman auch als eigenwillige, bisweilen bewusst unschlüssige, aber faktensatte Faschismusstudie mit literarischen Mitteln lesen – führt eindrücklich und bedrückend vor, warum das keine Alternative sein kann. Die Auseinandersetzung mit den so unfassbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, die Beschäftigung mit Schuld und Scham ist eine notwendige Qual – und „Bewältigung“ ist ein immer wieder quälendes, ein notwendiges Buch. Wie seinen Autor lässt es auch die, die es lesen, die, die sich ihm aussetzen, lange nicht mehr los.
Roman
eridun Zaimoglu: Bewältigung. Kiepenheuer & Witsch, 268 Seiten, 24,70 Euro.