Ein bunter Blindflug ins Erwachsensein an der Volksoper
Cake-Pops und Puppenköpfe, der leere Raum und unbesetzte Sessel: Mit einer visuellen Dichotomie hat die neue Direktorin Lotte de Beer am Sonntag eine der wohl spannendsten Regiekräfte der Saison in der Volksoper präsentiert: Sich selbst. Gemeinsam mit ihrem erstmals im Graben zu erlebenden Musikdirektor Omer Meir Wellber stellte de Beer ein Tschaikowski-Cuvée auf die Bühne - einen Verschnitt aus Oper und Ballett, für Erwachsene und Kinder, bunt und minimalistisch.
Wellber und de Beer haben sich den Tschaikowski-Operneinakter "Jolanthe" und den Ballettklassiker "Der Nussknacker", die beide 1892 gemeinsam uraufgeführt wurden, als ihr erstes Projekt auserkoren. Allerdings setzen die beiden die Werke nicht chronologisch nach-, sondern verschneiden sie geschickt miteinander. Die blinde Prinzessin Jolanthe, die nichts von ihrer Blindheit weiß, imaginiert sich nun die Nussknacker-Sequenzen vor ihrem geistigen Auge.
De Beer setzt dabei auf einen harten Kontrast der beiden Stückwelten. Hier das minimalistische Setting der "Jolanthe", das aus einer leeren Bühne mit einem Stuhlkreis besteht. Dort die zuckerfarbene Fantasiewelt des "Nussknackers", die so recht zur neuen, rosafarbenen Fassade des Hauses passt. Die Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts huschen als Alice-Hommage im Kostüm eines weißen Kaninchens über die Bühne, tanzen den Blumenwalzer als Blumen oder bedrohen in Rattenmasken das tänzerische Alter Ego Jolanthes.
Wenn man einmal davon absieht, was halb nackte Zinnsoldaten lasziv mit ihren Gewehrkolben anstellen können, ist das Ganze ein meist kindgerechter Augenschmaus, welcher der blinden Jolanthe naturgemäß verborgen bleibt. Es ist ein Blindflug in Erwachsensein, den die Prinzessin unwissend absolvieren muss, bis ihr der obligatorische Prinz erstmals die Wahrheit über ihre Erkrankung eröffnet. So geht am Ende der von Olesya Golovneva guttural gesungenen Jolanthe ein Augenlicht auf.
Diese Coming-of-Age-Parabel auf den freiwilligen Entschluss, sich den Dingen zu stellen und die Welt so anzublicken, wie sie ist, wird von Omer Meir Wellber im Orchestergraben mit frischer, etwas rumpeliger Attitüde begleitet. Dass er dabei immer wieder den Sängern enteilt, ist vor allem im Falle von Stefan Cernys prachtschimmerndem König René zu bedauern. Da gilt es, ganz im Sinne Jolanthes, halt mal ein Auge zuzudrücken.