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Russische Verwaltung zieht sich aus der Stadt Cherson zurück

Russischer Ukraine-Befehlshaber bereitet Rückzug vor
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Die pro-russische Verwaltung zieht sich nach eigenen Angaben vollständig aus der südukrainischen Stadt Cherson zurück. Dies gab der Verwaltungschef der Region Cherson, Wladimir Saldo, am Mittwoch bekannt. Bis zu 60.000 Zivilisten sollen in russisch besetztes Gebiet evakuiert werden. Dies sei eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der erwarteten Offensive auf die Stadt Cherson. Indes wurde die ukrainische Hauptstadt Kiew erneut Ziel russischer Raketenangriffe.

"Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer verlegt", so Saldo gegenüber dem russischen TV-Sender Rossija 24. Die Räumung der Stadt sei eine Vorsichtsmaßnahme. Die russische Armee werde in der Stadt bleiben und gegen die ukrainischen Truppen kämpfen "bis zum Tod". Zivilisten sei es nun für sieben Tage verboten, in die Region einzureisen. 5.000 Menschen wurden in den letzten zwei Tagen bereits evakuiert. Insgesamt sollen "etwa 50.000 bis 60.000" Menschen über den Fluss Dnipro in russisch besetztes Territorium gebracht werden. Dies werde etwa sechs Tage in Anspruch nehmen, so Saldo.

Die Sprecherin der Grünen für Außenpolitik und Menschenrechte, Ewa Ernst-Dziedzic, zeigte sich über die Evakuierungen äußerst besorgt. Denn laut ukrainischen Berichten seien seit Kriegsbeginn bereits mehr als 100.000 Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland oder in von Russland dominierte Gebiete überführt worden. Dort würden sie in der Regel offenbar zur Adoption freigegeben, so Ernst-Dziedzic. Das sei eine "massive Verletzung des Völkerrechts, insbesondere von Kinderrechten" und "zutiefst verstörend". Die Staatengemeinschaft dürfe hier nicht länger wegsehen, die UNO müsse unabhängige Untersuchungen einleiten.

Die Stadt Cherson mit ihren einstmals 280.000 Einwohnern liegt in der Nähe der von Moskau annektierten Halbinsel Krim und war die erste größere ukrainische Stadt, die nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar von russischen Streitkräften besetzt wurde. Ende September annektierte Moskau das Gebiet im Süden der Ukraine. Seit einigen Wochen ist es Ziel einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee, die immer weiter vorrücken konnte. Die russischen Soldaten auf dem rechten Dnipro-Ufer gelten als weitgehend abgeschnitten. Durch Artillerietreffer seien die Übergänge über den Fluss Dnipro unpassierbar gemacht.

Die ukrainische Hauptstadt Kiew war laut ukrainischen Angaben am Mittwoch erneut Ziel russischer Raketenangriffe. Flugabwehrbatterien hätten "mehrere russische Raketen" über Kiew abgeschossen, erklärte Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko im Messengerdienst Telegram. Der Luftalarm sei noch nicht vorbei, die Luftabwehr sei "immer noch in Aktion", schrieb Klitschko. Die Einwohner sollten in Schutzräumen zu bleiben. In der Region Tschernihiw im Norden des Landes wurden zwei Raketeneinschläge gemeldet. In der gleichnamigen Hauptstadt der Region explodierte eine iranische Drohne.

Ukrainische Streitkräfte sind laut der staatlich kontrollierten russischen Nachrichtenagentur RIA in der Nacht auf Mittwoch mit dem Versuch gescheitert, das Kernkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern. "Der Kampf hat mehrere Stunden gedauert, mindestens drei bis dreieinhalb Stunden", zitierte RIA den von Russland eingesetzten Beamten Wladimir Rogow. Die russischen Truppen hätten den Angriff abgewehrt. Laut ukrainischen Angaben habe Russland gegen Mitternacht begonnen, die an das AKW angrenzende Kleinstadt Enerhodar zu beschießen. Zum angeblichen Rückeroberungsversuch des AKW gab es seitens der Ukraine vorerst keine Angaben.

Der Beschuss von Enerhodar habe die ganze Nacht angedauert. Auch die Bezirke Krywyj Rih und Nikopol in der Region Dnipropetrowsk waren betroffen. In Enerhodar wurde das Rathaus schwer beschädigt, wie Fotos dokumentieren. Die Strom- und Wasserversorgung der Stadt sowie zahlreicher weiterer Städte und Dörfer der Region sind von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten, sagte der Leiter der Militärverwaltung der Region, Valentyn Resnitschenko. Bei den Angriffen in der Region Saporischschja seien auch S-300-Raketen eingesetzt worden, die eigentlich zur Luftabwehr verwendet werden.

In Krywyj Rih sei ein zweistöckiges Gebäude infolge des feindlichen Angriffs zerstört worden, teilte Resnitschenko mit. Bis zu 60 Granaten trafen demnach zwei Gemeinden nahe Nikopol. Es wurden keine Verletzten gemeldet, aber einige Wohnhäuser wurden beschädigt. In anderen Gebieten heulten die ganze Nacht hindurch Luftschutzsirenen, aber es wurden keine Angriffe gemeldet.

Seit Montag hat Russland die ukrainische Hauptstadt mehrmals angegriffen und dabei auch die Energieinfrastruktur ins Visier genommen. Fünf Menschen wurden dabei getötet, darunter eine schwangere Frau. "Die Lage ist jetzt im ganzen Land kritisch", hieß es am Dienstag aus dem Präsidialamt in Kiew. Laut Staatschef Selenskyj zerstörte Russland binnen einer Woche 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke. Laut den staatlichen Notfalldiensten waren am Dienstag mehr als 1.100 Orte ohne Strom.