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Ukraine begann nach Luftangriffen mit Stromabschaltungen

Ukranisches AKW Piwdennoukrainsk ist noch intakt
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Nach massiven russischen Angriffen auf die Infrastruktur hat die Ukraine mit Stromabschaltungen im ganzen Land begonnen. Russland habe in zehn Tagen über 300 Luftangriffe auf Energieanlagen geflogen. Nach Angaben der Regierung in Kiew sind mittlerweile rund 40 Prozent der ukrainischen Energie-Infrastruktur beschädigt. Unterdessen wurden aus dem Gebiet um die russisch besetzte Stadt Cherson rund 15.000 Menschen angesichts der vorrückenden ukrainischen Truppen evakuiert.

Als Reaktion auf die russischen Luftangriffe auf Kraftwerke und andere kritische Infrastruktur strebt die ukrainische Regierung eine landesweite Verringerung des Energieverbrauchs um 20 Prozent an. Die Bevölkerung sei dem Aufruf zu Stromsparen bereits gefolgt, sagt Energieminister Herman Haluschtschenko im Fernsehen. Es werde ein freiwilliger Rückgang des Verbrauchs verzeichnet. "Aber wenn das nicht ausreicht, sind wir gezwungen, Zwangsabschaltungen vorzunehmen." Der ukrainische Versorger Ukrenergo kündigte Engpässe bis 22.00 Uhr Ortszeit (21.00 Uhr MESZ) an.

In der Hauptstadt Kiew soll am Donnerstag die Fernwärme wieder angeschaltet werden, wie Bürgermeister Vitali Klitschko mitteilte. Die Reparatur- und Rettungsdienste seien um zehn Prozent aufgestockt worden. Klitschko rief die Bürger der Hauptstadt zum Stromsparen auf. Sie sollten keine Heizlüfter oder Klimaanlagen nutzen. Befürchtet wird, dass sich der Notstand im Lauf des Winters massiv verschärft. Fachleute versuchen, die Schäden so gut wie möglich zu beseitigen.

Die Schäden am Wärmekraftwerk in Burschtyn im Westen der Ukraine sind der Gouverneurin der Region Iwano-Frankiwsk zufolge beträchtlich. Das Kraftwerk sei am Mittwoch bei einem russischen Angriff getroffen worden, so Switlana Onyschtschuk im ukrainischen Fernsehen.

Der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) hat einen Stopp der russischen Angriffe auf die Bevölkerung und die zivile Infrastruktur in der Ukraine gefordert. "Alle Kriegsparteien müssen das internationale Völkerrecht achten und sicherstellen, dass Zivilisten und die zivile Infrastruktur in diesem Konflikt geschützt werden", sagte NRC-Regionaldirektor Carlo Gherardi laut einer Mitteilung vom Donnerstag. "Der Winter darf nicht als Kriegswaffe eingesetzt werden." Gherardi warnte zudem vor einer neuen Fluchtbewegung im Winter.

Die Ukraine sieht eine "wachsende Gefahr" einer neuen russischen Offensive aus dem nördlichen Nachbarland Belarus, das russischen Streitkräften bereits bei dem Einmarsch im Februar als Rückzugsgebiet gedient hatte. "Die aggressive Rhetorik der militärisch-politischen Führung Russlands und von Belarus verschärft sich", erklärte der ranghohe ukrainische Militärvertreter Oleksij Gromow am Donnerstag. Die Gefahr einer Offensive der russischen Streitkräfte an der Nordfront wachse, sagte Gromow. Diesmal könnte sie im Westen von Belarus erfolgen, "um die Hauptversorgungswege für ausländische Waffen und militärische Ausrüstung abzuschneiden, die über den Westen, insbesondere Polen, in die Ukraine gelangen".

Die ukrainischen Streitkräfte treiben ihre Offensive gegen die russischen Invasionstruppen in der südlichen Region Cherson nach eigenen Angaben voran. Dort seien 43 russische Soldaten getötet und sechs Panzer sowie andere Ausrüstung zerstört worden, teilt das Militär am Donnerstag mit.

Angesichts der vorrückenden ukrainischen Truppen sind nach Angaben der russischen Besatzungsverwaltung inzwischen 15.000 Menschen aus der Region Cherson gebracht worden. Sie seien an das linke Ufer des Flusses Dnipro (Dnjepr) gebracht worden, erklärte Kirill Stremoussow, Vertreter der pro-russischen Verwaltung, am Donnerstag auf Telegram. Die "Evakuierung" werde fortgesetzt. Die russischen Besatzungsbehörden in dem von Moskau annektierten Gebiet hatten den Beginn der Räumung am Mittwoch bekanntgegeben. Kiew verurteilte das Vorgehen als "Deportation" von Zivilisten nach Russland.

Die US-Regierung hat die Umsiedlungen im südukrainischen Gebiet Cherson durch die russische Besatzungsmacht kritisiert. "Es überrascht uns nicht, dass die Russen mit solch plumpen Taktiken versuchen, Kontrolle über eine Bevölkerung auszuüben, die (Kremlchef Wladimir) Putin und seinen Krieg eindeutig ablehnt", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses am Donnerstag auf die Frage eines Journalisten. Die Umsiedlungen seien ein weiteres Beispiel der Grausamkeit und Brutalität der Besatzer.

Die russische Führung erwägt britischen Militärexperten zufolge einen größeren Rückzug ihrer Truppen aus dem Gebiet um Cherson. Das geht aus dem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London am Donnerstag hervor. Ein solches Vorhaben werde jedoch erschwert durch die Tatsache, dass alle permanenten Brücken über den einen Kilometer Meter breiten Fluss schwer beschädigt seien, hieß es in der auf Twitter verbreiteten Mitteilung weiter. Russland müsste sich demnach höchstwahrscheinlich stark auf eine temporäre Brücke aus Lastkähnen verlassen, die nahe Cherson kürzlich fertiggestellt wurde sowie auf militärische Ponton-Fähren, so die Einschätzung der britischen Experten.

Selenskyj richtete sich in einer Rede auch an die Männer in den von Moskau besetzten und zum eigenen Staatsgebiet erklärten Gebieten. Die dortigen Männer sollten sich auf keinen Fall in die russische Armee einberufen lassen. "Vermeiden Sie das, wenn es irgendwie möglich ist", so Selenskyj. Wer diese Gebiete verlassen könne, solle das tun. Wer eingezogen worden sei, solle die Waffen strecken und versuchen, zu den Ukrainern zu desertieren. "Das Wichtigste: Retten Sie ihr Leben, und helfen Sie unbedingt auch anderen!", sagte er.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz warf Russland eine "Taktik der verbrannten Erde" vor. Aber auch damit werde Moskau nicht den Krieg gewinnen, sagte er am Donnerstag in einer Regierungserklärung im Bundestag. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier verschob kurzfristig einen für Donnerstag geplanten Besuch in Kiew. Grund waren nach dpa-Informationen Sicherheitsbedenken.

Das niederländische Parlament hat für die Einrichtung eines Sondertribunals gestimmt, das über führende russische Militärs und Politiker wegen der Invasion der Ukraine richten soll. In einer Resolution wird die niederländische Regierung aufgefordert, sich bei der Europäischen Union und den Vereinten Nationen für ein derartiges Tribunal einzusetzen.

Das russische Finanzministerium zapft den Nationalen Wohlstandsfonds an, um damit Löcher im Staatsbudget zu stopfen. Dazu würden eine Billion Rubel (rund 16,6 Mrd. Euro) abgezweigt, wie das Ministerium mitteilt. Damit solle das erwartete Staatsdefizit ausgeglichen werden. Der Fehlbetrag im Etat wird in diesem Jahr auf rund zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes geschätzt. Grund dafür sind die Folgen der westlichen Sanktionen und die Kosten des Krieges gegen die Ukraine, die die Wirtschaft und die Finanzen der Regierung belasten.

Der russische Präsident Putin hat am Mittwoch den Kriegszustand über die ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson ausgerufen. Russland beansprucht sie völkerrechtswidrig für sich und betrachtet die dort lebenden Ukrainer als russische Staatsbürger. Damit wächst die Gefahr, dass die Männer zum Dienst in der russischen Armee gezwungen werden und gegen ihre Landsleute kämpfen müssen.

Fast acht Monate nach Kriegsbeginn in der Ukraine hat sich Putin auf einem Truppenübungsplatz erstmals selbst beim Schießen mit einem Scharfschützengewehr filmen lassen. Das russische Staatsfernsehen zeigte am Donnerstag, wie der Oberbefehlshaber liegend unter einem Tarnnetz die Waffe vom Typ Dragunow abfeuerte. Anschließend sprach er auf dem Areal in Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau mit Soldaten. Zusammen mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu kontrollierte Putin vor laufender Kamera auch demonstrativ die Ausrüstung der Kämpfer. Der Besuch erfolgte inmitten von Kritik an einer schlechten Vorbereitung russischer Soldaten für den Krieg in der Ukraine.