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Putin verhängte Kriegszustand in annektierten Gebieten

Ein entsprechendes Dekret habe Putin bereits unterzeichnet
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Acht Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin in mehreren kürzlich annektierten Gebieten im Nachbarland den Kriegszustand verhängt. Damit dürften die Freiheiten der in Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk lebenden Ukrainer noch einmal erheblich eingeschränkt werden. Zugleich baute Putin die Machtfülle der russischen Regionalgouverneure in den vier Regionen aus.

Ein entsprechendes Dekret habe er bereits unterschrieben, sagte Putin am Mittwoch bei einer im Staatsfernsehen übertragenen Rede im nationalen Sicherheitsrat. Nun müsse noch die Staatsduma zustimmen - was aber als reine Formsache gilt. Das bedeutet, dass dort dann russisches Kriegsrecht gilt.

Die Schritte gelten als weitere Reaktion auf die zuletzt immer wieder erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte. In der russisch besetzten Stadt Cherson ordneten die Behörden in Erwartung eines Angriffs eine Evakuierung der Zivilbevölkerung an. Mit dem bereits an diesem Donnerstag in Kraft tretenden Kriegsrecht gehen erweiterte Machtbefugnisse für die russischen Besatzungsverwaltungen in den ostukrainischen Gebieten Luhansk, Donezk sowie in Cherson und Saporischschja im Süden einher.

So gelten etwa eine Sperrstunde und Militärzensur; es werden Checkpoints eingerichtet und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt, wie der russische Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow erklärt. Möglich seien auch Festnahmen bis zu 30 Tage, die Beschlagnahme von Eigentum, die Internierung von Ausländern sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland. Auch die Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben soll möglich sein.

Ungeachtet dieser drastischen Maßnahme nannte Putin die Kämpfe gegen das Nachbarland weiter nur eine "militärische Spezial-Operation". Er ordnete die Bildung eines Koordinierungsrats mit Regierungschef Michail Mischustin an der Spitze an. Dieser solle die Zusammenarbeit von Russlands Behörden und Streitkräften in der Ukraine verbessern - etwa bei der Lieferung von Waffen.

Mit Blick auf den genauen Text von Putins Dekret wiesen russische Experten nun außerdem darauf hin, dass von dem Kriegsrecht im Grunde theoretisch alle Regionen Russlands in der einen oder anderen Weise betroffen sein könnten. Kremlsprecher Dmitri Peskow trat Befürchtungen entgegen, Russland werde jetzt seine Grenzen für die eigenen Bürger schließen. Das sei nicht geplant, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin betonte, das Kriegsrecht in den vier annektierten Gebieten werde das Alltagsleben der Hauptstädter "derzeit" nicht beeinflussen.

Putin hatte Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja Ende September nach mehreren Scheinreferenden völkerrechtswidrig annektieren lassen. International wird der Schritt nicht anerkannt und scharf verurteilt. Vor wenigen Tagen hatte die UN-Vollversammlung in einer Resolution mit großer Mehrheit Russland aufgefordert, den illegalen Anschluss der teils weiter unter ukrainischer Kontrolle stehenden Regionen rückgängig zu machen. Der UN-Beschluss ist völkerrechtlich allerdings nicht bindend.

Die Verhängung des Kriegsrechts begründete Putin damit, dass Kiew es ablehne, die Ergebnisse der Scheinabstimmungen über einen Beitritt zu Russland anzuerkennen. "Im Gegenteil, der Beschuss geht weiter. Unschuldige Menschen sterben", sagte Putin. Seiner Darstellung zufolge sind Rückeroberungsversuche der Ukraine nun Angriffe auf russisches Staatsgebiet. Russland hat die Ukraine vor knapp acht Monaten am 24. Februar überfallen und seitdem größere Teile der vier ost- und südukrainischen Gebiete erobert. Kiew hat wiederholt bekräftigt, die besetzten Regionen wieder befreien zu wollen.

Putin verfügte zudem die Bildung eines Koordinierungsrats unter Führung von Ministerpräsident Michail Mischustin, um die stockende Offensive zu unterstützen. Der gesamte Staatsapparat müsse die "militärische Spezialoperation" - wie der Angriffskrieg gegen die Ukraine in Russland genannt werden muss - unterstützen. In einer Anordnung des Präsidialamts wurde auch in acht an die Ukraine grenzenden russischen Regionen eine "wirtschaftliche Mobilisierung" angeordnet. Zu den acht Regionen gehört auch die ukrainische Halbinsel Krim, die Russland bereits 2014 völkerrechtswidrig annektiert hatte.

Die ukrainische Regierung reagierte gelassen auf die jüngsten Schritte Putins, die als weitere Eskalation in den nunmehr seit knapp acht Monaten tobenden Angriffskrieg gelten. Präsidentenberater Mychailo Podoljak erklärte: "Das von Russland verhängte Kriegsrecht in besetzten Gebieten bedeutet nichts weiter als eine Pseudo-Legitimierung für die Plünderung ukrainischen Eigentums." Für die Ukraine ändere dies nichts. "Wir werden mit der Befreiung und Beendigung der Besetzung weitermachen", sagte Podoljak.

Der Chef des Präsidialamts in Kiew, Andrij Jermak, warf Russland zudem vor, in Cherson eine Propaganda-Show zu veranstalten. "Die Russen versuchen, die Einwohner von Cherson mit Falschnachrichten über den Beschuss der Stadt durch unsere Armee einzuschüchtern und veranstalten außerdem eine Propagandashow mit Evakuierungen", schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst Telegram. "Propaganda wird nicht funktionieren."

Die russische Besatzungsmacht im südukrainischen Gebiet Cherson hat nach eigenen Angaben bereits 7.000 Zivilisten auf von Russland kontrolliertes Territorium ausgesiedelt. Das sagte Verwaltungschef Wladimir Saldo am Mittwoch russischen Agenturmeldungen zufolge. Unabhängig zu überprüfen waren die Angaben nicht.

Die russische Armee befürchtet aber einen großen Angriff der Ukraine, um die Stadt Cherson und das Gebiet auf dem nördlichen rechten Ufer des Flusses Dnipro zu befreien. Deshalb sollen Zivilisten von dort ausgesiedelt werden. Diese Maßnahme wird durch den verhängten Kriegszustand in der Region erleichtert. Russland hat Cherson auch für annektiert erklärt und betrachtet die ukrainische Bevölkerung dort als russische Staatsbürger.

In den vergangenen Wochen hat die ukrainische Armee aber Brücken über den Dnipro unpassierbar gemacht. Die Besatzungsverwaltung rief die Menschen auf, sich am Hafen von Cherson einzufinden. Von dort verkehrten tagsüber kleine Dampfer ans linke Ufer. "Jede Person darf 50 Kilo Gepäck mitführen", hieß es in der Information. "Tiere dürfen mitgenommen werden."

Zur Vorbereitung der Evakuierung hatten zuletzt der Vizechef des russischen Präsidialamtes, Sergej Kirijenko, und Krim-Verwaltungschef Sergej Aksjonow Cherson besucht. Das teilte Aksjonow auf Telegram mit. Ein anderer Sprecher der Besatzer in Cherson, Kirill Stremoussow, sagte, alle ukrainischen Angriffe am Mittwoch seien abgewehrt worden. Von ukrainischer Seite gibt es seit Tagen keine Angaben zu der angeblich geplanten Großoffensive.

Das russische Staatsfernsehen strahlte Bilder aus, auf denen Menschen zu sehen sein sollen, die aus der Stadt Cherson fliehen in Richtung des von Russland besetzten Gebietes. Kirill Stremousow, Vize-Chef der von Russland installierten Verwaltung, appellierte an die Bevölkerung, die Stadt zu verlassen, nachdem die russischen Streitkräfte in den vergangenen Wochen 20 bis 30 Kilometer zurückgedrängt worden seien.

Verwaltungschef Wladimir Saldo kündigte laut amtlicher russischer Nachrichtenagentur Tass an, in den nächsten sechs Tagen sollten rund 50.000 bis 60.000 Menschen an das Ostufer des Flusses Dnipro oder nach Russland gebracht werden. "Die ukrainische Seite zieht ihre Truppen für eine großangelegte Offensive zusammen", sagte er. "Wo das Militär aktiv ist, ist kein Platz für Zivilisten." In den kommenden sieben Tagen sei der Zutritt für Zivilisten verboten, sagte Saldo im staatlichen Fernsehen. Der Schritt sei nötig, um die Zivilbevölkerung zu schützen. In den vergangenen zwei Tagen hätten bereits mehr als 5.000 Menschen Cherson verlassen. Die Angaben aus dem Kriegsgebiet lassen sich nicht unabhängig verifizieren.

US-Präsident Joe Biden bewertete die Angriffe Russlands auf Zivilisten in der Ukraine unterdessen als Schwäche des russischen Präsidenten Putin. "Ich denke, Wladimir Putin befindet sich in einer unglaublich schwierigen Lage", sagte Biden am Mittwoch auf die Frage von Journalisten. Das einzige Mittel, das dem Kremlchef zur Verfügung stehe, sei es, brutal gegen ukrainische Bürger vorzugehen, um zu versuchen, sie zum Aufgeben zu bewegen.

"Doch das werden sie nicht tun", sagte Biden. Russland hat die Hauptstadt Kiew und andere Orte in der Ukraine erneut mit Angriffen überzogen. Neben Raketen setzt Moskau verstärkt auf Kampfdrohnen.