Stichwahl in Brasilien: Schmutziger Stimmenfang im Namen Gottes
Eine Woche ist es noch bis zur Stichwahl ums brasilianische Präsidentenamt. Der Abstand zwischen den Bewerbern schrumpft, die Falschnachrichten im Wahlkampf werden mehr.
Brasilia – Vor einigen Wochen war noch ein Wahlsieg von Luiz Inácio Lula da Silva im ersten Wahlgang für möglich gehalten worden, inzwischen sagen die Umfragen ein knappes Rennen in der Stichwahl ums Präsidentenamt in Brasilien vorher. Wenige Tage vor der Entscheidung hat Amtsinhaber Jair Bolsonaro aufgeholt. Einer am Mittwoch veröffentlichten Befragung des Datafolha Instituts zufolge kommt der linksgerichtete Ex-Präsident Lula derzeit auf 52 Prozent der Stimmen, während der rechtsextreme Bolsonaro bei 48 Prozent liegt.
Dementsprechend wird mit harten Bandagen um jede Stimme gekämpft, vor allem aber um jene der Gläubigen. Noch nie wurde das Thema Religion derart in einem brasilianischen Wahlkampf missbraucht wie derzeit. So sah sich etwa der katholische Erzbischof von Sao Paulo, Kardinal Odilo Scherer, laut Kathpress vor einer Woche gezwungen, zu erklären, warum er rote Kleidung trägt. Wegen des Kardinalspurpurs war er als „Kommunist“ beschimpft worden – er sei wohl ein Freund von Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva und wolle wie er, Abtreibung legalisieren und eine „linke Diktatur“ errichten.
Als „Rote“ und „Kommunisten“ bezeichnet das Lager des wahlkämpfenden Staatspräsidenten Jair Bolsonaro den Herausforderer Luiz Inacio Lula da Silva und seine Anhänger. Es seien seltsame Zeiten, twitterte Kardinal Scherer. Er spüre den Aufstieg des Totalitarismus, ja des Faschismus. Der linke Ex-Gewerkschaftsführer Lula regierte als Präsident bereits von 2003 bis 2010 – ohne eine kommunistische Diktatur aufzubauen. Doch der Wahlkampf ist hitzig, hauptsächlich durch Hass- und Fake-News-Attacken aus dem Bolsonaro-Lager. Und Lula-Anhänger sparen nicht mit Reaktionen. Man bezichtigt sich gegenseitig des Satanismus und der Pädophilie.
„Im Wahlkampf geht es gerade höllisch heiß zu“, sagt der Anthropologe Flavio Conrado. „Die extreme Rechte dominiert die sozialen Netzwerke.“ Und es gebe dort auch eine „evangelikale, konservative Rechte von Pastoren“, die Bolsonaro unterstützen. Dieser fühlt sich unter den Evangelikalen wohl, die 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Ihre Stimmen sicherten ihm 2018 den Sieg. Und auch jetzt führt er mit über 60 Prozent bei den Evangelikalen, Lula hingegen bei den Katholiken.
Bolsonaro behauptet, Lula werde Kirchen schließen, Christen verfolgen, ungeborene Kinder abtreiben und Kleinkinder zu Homosexuellen erziehen lassen. Der Anthropologe Conrado, der die Aktivitäten christlicher Gruppen in sozialen Netzwerken untersucht, hat zwischen Jänner und September rund 13.000 Posts registriert, die von einem angeblich in Brasilien tobenden spirituellen Krieg berichten. „Drogen, Abtreibung und Homosexualität sind Themen, vor denen in den Posts gewarnt wird. Der Kult um Bolsonaro hat unter den Evangelikalen auch den Anti-Kommunismus neu befeuert“, so Conrado. Man beschwöre einen Krieg zwischen Gut und Böse und streue „moralische Panik“.
Falschnachrichten hatten schon einen wesentlichen Anteil daran, dass Bolsonaro 2018 zum Präsidenten gewählt worden war. Jetzt sind sie zurück – geschmackloser und unappetitlicher als je zuvor. Die Bundesuniversität von Rio de Janeiro (BBC Brasil) analysierte derlei Posts bereits im August auf den Internet-Profilen der Bolsonaro-Söhne oder auf jenem des Pastors Silas Malafaia, dem Kopf der erzkonservativen evangelikalen Asembleia de Deus. Und: „Wir haben festgestellt, dass viele Politiker, die mit dem Bolsonarismus in Verbindung stehen, das Umfeld des Informationsaustauschs mit den Evangelikalen nutzen, um Vertrauen zu gewinnen, Fehlinformationen zu verbreiten und Wählerstimmen zu gewinnen“, sagte Professor Rose Marie Santini von der BBC Brasil.
Unterstützung erhält Bolsonaro aber auch von einigen Medien. Anfang September schon hatte der Wahlgerichtshof (siehe Kasten) beim TV-Sender „Jovem Pan“ Fake News gegen Lula und die Verbreitung von Pro-Bolsonaro-Werbung moniert. Auch der Streamingdienst „Brasil Paralelo“ war bereits wegen geschichtsrevisionistischer Formate in den Fokus der Behörde gerückt.
Auf religiöse Themen und evangelikale Moralvorstellungen zielen aber auch die gegen Jair Bolsonaro gerichteten Attacken.
Kurz nach dem ersten Wahlgang machte ein Video von Bolsonaro die Runde, das ihn bei einer Veranstaltung der Freimaurerloge zeigen sollte – ein Bund, der in evangelikalen Kreisen auf Ablehnung stößt. Auch wenn das Video schon alt war und Bolsonaro damals noch ein unbedeutender Hinterbänkler, verfehlte es seine Wirkung nicht. Es wurde hunderttausendfach geteilt und vermeintliche Anhänger posteten Videos, in denen sie sich wütend und entrüstet zeigten. Auch Verbindungen Bolsonaros zum Kannibalismus oder zur Pädophilie sollten hergestellt werden. (APA, KAP, sta)