Derzeit in den Kinos

Cronenbergs „Crimes of the Future“: Die Voyeure des Fleischlichen

Kristen Stewart und Léa Seydoux (r.) in David Cronenbergs symbolisch aufgeladener Zukunftsvision „Crimes of the Future“.
© Stadtkino

In David Cronenbergs „Crimes of the Future“ hat die Menschheit körperliche Gebrechen überwunden – und dabei neue Formen sexuellen Begehrens entdeckt.

Innsbruck – Der Körper ist das Material der Performancekunst. Im Fall des Künstler-Paares im Zentrum von David Cronenbergs beim diesjährigen Filmfestival von Cannes präsentierten, dystopisch-schwarzhumorigen „Crimes of the Future“ durchaus in einem sehr wörtlichen Sinne. Saul Tensor und die ehemalige Unfallchirurgin Caprice – gegensätzlich charismatisch gespielt von Viggo Mortensen und Léa Seydoux als eine entfernte Variation auf Marina Abramović und Ulay – machen die Krankheit zum Kunst-Spektakel – konkret die Entfernung von Sauls Neo-Organen, die er in sich wachsen lässt. Die atmosphärisch düstere Neo-Noir-Story rund um Sauls Undercover-Aktivitäten für die neue Sittenpolizei gegen radikale Transhumanisten, den Leichnam eines Mutanten-Kindes und zwei Mitarbeitende der Behörde zur Registrierung neuartiger Organe liefert einen verworrenen Spannungsbogen rund um diesen performativen Kern. Die absurden Dialoge sind dabei ebenso Material, wie die Körper.

Crimes of the Future. Ab 16 Jahren. Derzeit in den Kinos.

Im Leokino findet morgen Samstag ein virtuelles Publikumsgespräch mit David Cronenberg statt. Filmbeginn: 20 Uhr.

In dem in Griechenland gedrehten „Crimes of the Future“ – übrigens kein Remake von Cronenbergs gleichnamigem Film von 1970 – verliert sich der mittlerweile 79-jährige Regisseur bei aller morbiden Körperlichkeit nicht in der Krankheit als Metapher, wie sie Susan Sontag kritisierte. Vielmehr treibt er den Gedanken konsequent bis ins Absurde. Bei Cronenberg ist die Zukunft des Körperlichen Ausdruck einer gesellschaftlichen Krankheit: Der Mensch entwickelt sich über sich selbst hinaus, das Fleischliche und das destruktive Spiel damit inszeniert er als Fetisch einer seltsam ruhigen Zukunft. Schmerz wie Infektiöses hat die Menschheit überwunden. Lust wird seither vornehmlich durchs Spiel damit gewonnen, durch buchstäblich einschneidendes Eindringen: „Chirurgie ist der neue Sex“ – und Saul Tensor der Star zukünftiger „Sexhibition“. Er macht seinen Körper zum Kunststoff – und Regisseur Cronenberg tut es ihm nach – und spielt mit der Schaulust des Publikums. „Crimes of the Future“ ist auch ein Kommentar auf jenen Body-Horror, mit dem Cronenberg („Die Fliege“) bekannt wurde. Auch seinen beim Festival in Cannes ausgezeichneten Film „Crash“ denkt er weiter. Damals waren es Autounfälle, in denen sich Schaulust entlud – jetzt sind es medizinische Eingriffe. Personifiziert wird dieser eigentümliche Voyeurismus in „Crimes of the Future“ durch Timlin, eine junge Beamtin des Nationalen Organregisters – gespielt von Kristen Stewart, die fasziniert und faszinierend nervös beginnt, ihr eigenes Begehren zu erforschen. „Crimes of the Future“ ist eine mysteriöse, streckenweise hypnotische Fantasie über das Überschreiten von Grenzen. Am Ende des Grenzgangs entsteht ein neuer Mensch, dem jede Krankheit die Aussicht auf (sexuelle) Befriedigung ermöglicht. (maw)

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