Querschläger statt NATO-Bündnisfall

Rakete in Polen: So würde die NATO im Falle eines Angriffs reagieren

Ermittler untersuchen den Einschlagkrater im polnischen Dorf Przewodów – es liegt etwa sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.
© APA/AFP/POLISH POLICE/HANDOUT

Am Dienstag traf eine Rakete ein Dorf in Polen, zwei Menschen starben. Da es sich um keinen gezielten Angriff auf das NATO-Mitglied handelte, blieb ein Bündnisfall aus. Wir haben uns angesehen, was die NATO tun könnte, wenn ein Mitgliedsstaat tatsächlich angegriffen wird.

Warschau, Brüssel – Nach dem Raketeneinschlag in Polen mit zwei Todesopfern gab es Befürchtungen eines möglichen NATO-Bündnisfalls, doch dieser ist ausgeblieben: Nach Einschätzung der Militärallianz ist eine ukrainische Luftabwehrrakete auf polnischem Staatsgebiet eingeschlagen. Dennoch stellt sich die Frage, wie die NATO bei einem möglichen Angriff reagieren würde:

❓ Wie bewertet die NATO den Fall?

Anders als die Ukraine geht die Militärallianz nicht von einem russischen Angriff auf polnisches Territorium aus. Es gebe "keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff" auf Polen, betonte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einer Dringlichkeitssitzung der 30 Mitgliedsländer in Brüssel.

Eine Entwarnung sei dies aber nicht: Der Vorfall verdeutliche, "dass der Krieg in der Ukraine, für den Präsident Putin verantwortlich ist, weiter gefährliche Situationen hervorbringt", sagte Stoltenberg.

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Polen verzichtete nach NATO-Angaben angesichts der Erkenntnisse über einen ukrainischen Querschläger darauf, sich auf Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrags (Details siehe weiter unten) zu berufen.

Darin sichern sich die NATO-Staaten umfangreiche "Konsultationen" in allen Fällen zu, in denen ein Mitglied "seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit" gefährdet sieht. Gemeinsame Schritte gehen daraus jedoch nicht zwingend hervor, wie Diplomaten betonen.

❓ Wann würde überhaupt der Bündnisfall greifen?

Der Bündnisfall ist in Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags (Details siehe weiter unten) von 1949 geregelt. Dieser sieht bei einem "bewaffneten Angriff" auf einen oder mehrere Mitgliedstaaten eine kollektive Antwort vor.

Sicherheitsexperten betonen, dass sich daraus nicht automatisch ein militärischer Gegenschlag der Militärallianz ergibt. Denn der Bündnisfall muss einstimmig von den NATO-Ländern beschlossen werden. Auch dann können sich die Staaten laut NATO-Vertrag für andere Mittel als einen Militärschlag entscheiden.

❓ Welche Beispiele gibt es für den Bündnisfall?

Artikel 5 wurde in der gut 73-jährigen NATO-Geschichte nur ein einziges Mal von einem Mitgliedsland bemüht: Von den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Im Oktober 2001 verkündete der damalige NATO-Generalsekretär George Robertson, dass die USA unter Präsident George W. Bush Beweise für die Verantwortung des Terrornetzwerks Al-Kaida hätten. Kurz darauf beschlossen die Bündnisländer den Bündnisfall. Folge war der langjährige Militäreinsatz in Afghanistan.

❓ Was sieht die EU bei einem Angriff vor?

Deutlich weniger bekannt ist, dass auch die Europäische Union eine Beistandsklausel hat. Sie ist seit 2009 in Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags festgeschrieben. Im Falle eines "bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats" sind die anderen EU-Länder verpflichtet, den Partner zu unterstützen.

Ob die Hilfe militärisch oder auf andere Art erfolgt, ist Sache der einzelnen Länder. Die Klausel wurde noch nie aktiviert – auch wenn Frankreich dies nach den Pariser Terroranschlägen mit 130 Toten vom November 2015 zunächst erwog. (APA/AFP)

🧾 Artikel 4 und 5: Die Verpflichtungen der NATO-Mitglieder

Der Einschlag einer Rakete in Polen hat die Kernregelungen des NATO-Vertrages in den Vordergrund gerückt. Hier eine Übersicht über den Inhalt:

🔷 ARTIKEL 4 - KONSULTATIONEN

Artikel 4 sieht engere Konsultationen der Mitglieder der Militärallianz vor, wenn die Sicherheit eines von ihnen bedroht ist. "Die Parteien werden einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist."

Nach Angaben des Bündnisses wurde Artikel 4 seit der NATO-Gründung 1949 sieben Mal genutzt. Zuletzt beantragten Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei am 24. Februar 2022 wegen des russischen Einmarsches in der Ukraine Konsultationen nach Artikel 4.

🔷 ARTIKEL 5 - BÜNDNISFALL

Artikel 5 des NATO-Vertrags ist der Eckpfeiler des Bündnisses. Dem Artikel zufolge wird ein Angriff auf einen der NATO-Verbündeten als Angriff auf die gesamte Allianz angesehen. In der Charta heißt es im Wortlaut: "Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird".

Weiterhin vereinbaren die Unterzeichner, "dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten".

🔷 KEIN AUTOMATISMUS

Nach einem Angriff auf einen Mitgliedstaat kommen die NATO-Staaten zusammen, um zu entscheiden, ob sie den Sachverhalt gemäß Artikel 5 einordnen wollen. Somit handelt es sich bei der Umsetzung des Artikels nicht um einen Automatismus. Zudem ist die Dauer solcher Konsultationen nicht zeitlich begrenzt.

Nach Ansicht von Experten ist die Formulierung flexibel genug, dass jedes Mitglied selbst entscheiden kann, wie weit es bei der Reaktion auf einen bewaffneten Angriff gegen ein Bündnismitglied gehen will.

🔷 WURDE ARTIKEL 5 SCHON EINMAL ANGEWENDET?

Die NATO hat bisher einmal den Bündnisfall als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington ausgerufen.

🔷 RUSSLANDS KRIEG IN DER UKRAINE UND DER BÜNDNISFALL

US-Präsident Joe Biden betont, dass die USA kein Interesse an einem Krieg gegen Russland hätten. Er hat jedoch seit Beginn der russischen Invasion mehrmals wiederholt, dass Washington seinen Verpflichtungen gemäß Artikel 5 zur Verteidigung der NATO-Partner nachkommen werde. "Amerika ist gemeinsam mit seinen NATO-Verbündeten bereit, jeden einzelnen Zentimeter des NATO-Gebiets zu verteidigen. Jeden einzelnen Zentimeter", sagte Biden im September im Weißen Haus. Zuvor hatte er erklärt, es bestehe "kein Zweifel", dass seine Regierung Artikel 5 einhalten werde.

Auch Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz hat wiederholt betont, dass die Verbündeten im Falle eines Angriffes jeden Zentimeter des NATO-Territoriums verteidigen würden.

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