Alles, was Recht ist

Debatte um Grundrechte entbrannt: Experte Obwexer im TT-Gespräch

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg überprüft die Einhaltung der EMRK.
© iStock

In Österreich ist eine Debatte um die Änderung der Europäischen Menschenrechtskonvention entbrannt. Experten warnen aber eindringlich davor, diese Errungenschaft in Frage zu stellen.

Von Benedikt Mair und Anna Schafferer

Innsbruck – Niemand darf gefoltert oder einer erniedrigenden Behandlung unterworfen werden. Jede und jeder ist frei, eine Familie zu gründen, seine Religion auszuüben und Meinung zu äußern. Keinem Mann und keiner Frau darf ohne festgeschriebenen Grund die Freiheit entzogen werden. Das alles und vieles mehr ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgeschrieben. Dieser völkerrechtliche Vertrag „gehört überarbeitet“, um die Asylgesetze an die aktuellen Herausforderungen anzupassen, erklärte vor einigen Tagen ÖVP-Klubchef August Wöginger. Aber wäre eine Änderung der EMRK überhaupt möglich? Und falls ja, was hätte das für Konsequenzen?

Um zu verstehen, welche Bedeutung dieser Katalog an Menschenrechten hat, sei es wichtig, seinen Ursprung zu kennen, sagt Walter Obwexer, Europa- sowie Völkerrechtsexperte und Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck. „Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es weltweit Bestrebungen gegeben, grundlegende Menschenrechte auszuformulieren, damit massive Eingriffe in ganze zentrale Rechte der Menschen, wie es sie durch das nationalsozialistische Regime gab, verhindert werden können.“ Unter diesem Eindruck habe die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. „Darin ist bereits das Recht auf Leben oder auf Meinungsfreiheit sowie das Verbot von Folter und Sklaverei formuliert worden.“ Zwar sei die Resolution rechtlich nicht bindend, habe aber „den Staaten weltweit als Orientierung dienen sollen“.

🔎​ Eine kurze Geschichte der Menschenrechte, Teil 1/2:

In Europa wurden die Ideen der Erklärung „sehr rasch übernommen“, sagt Obwexer. Wohl auch deshalb, weil sich viele Gräuel der Zeit des Weltkrieges hier abgespielt hätten, glaubt der Rechtswissenschafter. „Im Jahr 1950 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben, drei Jahre später trat sie in Kraft“, erklärt er. „Und im Gegensatz zum Dokument der Vereinten Nationen ist die EMRK ein rechtlich bindender Vertrag, in dem es darum geht, die Menschen vor Hoheitsgewalt und autoritären Regimen zu schützen.“ Im Laufe der Jahrzehnte sei die Konvention mehrfach geändert und weiterentwickelt worden. „Bis heute aber nur in eine Richtung, nämlich hin zu mehr Rechten“, sagt Obwexer. Sofern das, was August Wöginger und in seinem Fahrwasser auch mehrere österreichische Landeshauptleute forderten, zur Umsetzung komme, würde das eine Zäsur bedeuten.

„Es wäre das erste Mal, dass eine Änderung kommt, die das Recht beschneidet. Dieser Schritt ist zwar möglich, aber alle Beteiligten sollten sich sehr gut überlegen, ob sie ihn setzen wollen.“ Zum einen, weil es nicht möglich sei, „das Grundrecht nur für Drittstaatenbürger stärker einzuschränken“, betont Obwexer. Würde beispielsweise der Artikel zum Folterverbot geändert, damit Migranten auch in Länder abgeschoben werden können, in denen ihnen eine unmenschliche Behandlung droht, „hätte das auch potenziell Auswirkungen auf Bürger jener 46 Staaten, welche die EMRK ratifiziert haben“. Auch immer wieder diskutiert wurde in Österreich eine Schutzhaft für potenziell gefährliche Asylwerber. „Um diese einzuführen, müsste aber das Grundrecht auf persönliche Freiheit überarbeitet werden. Und wenn das passiert, könnte sich irgendwann auch der eine oder andere Europäer eingesperrt wiederfinden. Ob das in deren Sinne ist, wage ich zu bezweifeln.“ Außerdem erinnert Obwexer daran, dass Europa auf der politischen Weltbühne stets als Anwalt der Menschenrechte auftrete und bedenken sollte, was eine Schmälerung dieser im eigenen Einflussbereich „für ein Signal an die Welt wäre. Es würde jedenfalls die Glaubwürdigkeit zunehmend beeinträchtigen.“

🔎​ Eine kurze Geschichte der Menschenrechte, Teil 2/2:

„Allerdings“, sagt Verfasungsrechtler Peter Bußjäger, „bedeutet die Diskussion über die EMRK nicht gleichermaßen die Aushebelung davon.“ Es sei völlig legitim, über die Folgen von Gerichtsurteilen zu sprechen, die Debatte sollte aber „sachlich und reflektiert geführt und der Blick dorthin gerichtet werden, wo die Probleme sind. Und ich vermute, das ist auf nationaler Ebene“, sagt der Verfassungsrechtler. So sei klar, dass das Rechtsschutzsystem effektiv sein muss, „aber es könnte schneller arbeiten“. Denn eines der Grundprobleme sei, dass „Verfahren Jahre dauern, immer wieder neue Anträge eingebracht werden, Entscheidungen spät oder gar nicht vollstreckbar werden und fehlende Ressourcen teils zu Qualitätsmängeln führen, die wiederum Aufhebungen zur Folge haben“, sagt Bußjäger – „viel könnten wir also selbst im eigenen Land reparieren“. Denn eines müsse bei aller Offenheit für Diskussionen klar sein: „Es kann niemals darum gehen, Grundrechte auszuhebeln oder auch nur in Frage zu stellen.“

Vom Vorschlag, an den Grundsäulen der Menschenrechte zu sägen, hält auch Europa- und Völkerrechtler Walter Obwexer wenig. „Sinnvoller wäre es, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anzusetzen und Einzelurteile jenes Organs anzufechten, das die Einhaltung der EMRK überprüft.“ Denn durch rechtliche Argumente könne der Gerichtshof durchaus davon überzeugt werden, seine Auslegung der Menschenrechtskonvention zu ändern. „Das ist auch schon mehrfach passiert“, sagt Obwexer.

5 Fragen an ...

Elisabeth Rathgeb, Direktorin der Tiroler Caritas

1️⃣ Frau Rathgeb, welche Bedeutung messen Sie den Menschenrechten bei? Diese sind eine der größten Errungenschaften, die unsere Welt je hervorgebracht hat, und das Lernergebnis aus den bitteren Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs.

2️⃣ Und wie ist es um diese Errungenschaft in Europa, Österreich und Tirol bestellt? Im Vergleich zu anderen Teilen der Welt, die ich durch meine Arbeit als Caritas-Direktorin auch kennen gelernt habe, ist die Lage bei uns sehr gut. Es gibt aber keine Sicherheit, dass das auf Dauer so bleibt.

3️⃣ Inwiefern? Es gibt durchaus auch in Europa, etwa in Polen oder Ungarn, Tendenzen, die Menschenrechte auszuhöhlen, die Presse- oder Meinungsfreiheit einzuschränken. Das sollte uns eine Warnung sein.

4️⃣ Wie bewerten Sie die aktuelle zu den Menschenrechten geführte Debatte in Österreich? Die Diskussion kann ein Beitrag dazu sein, dass wir uns den Wert der Menschenrechte wieder mehr in Erinnerung rufen.

5️⃣​ Überarbeitet gehört Ihrer Meinung nach also nichts? Wenn es um die Europäische Menschenrechtskonvention geht, dürfen wir keine Rückschritte in Kauf nehmen. Ausruhen sollte sich Europa auf ihr allerdings auch nicht, sondern sie im Sinne einer Stärkung der Rechte aller Menschen weiterentwickeln.

Das Interview führte Benedikt Mair