Krieg in Ukraine

Kiew: Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 8300 Zivilisten getötet

Ein Mopedfahrer fährt über eine von Artillerie beschädigte Brücke in Cherson.
© IMAGO/Sergei Bobylev

Alleine in den befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Doneszk haben Behörden in den vergangenen Wochen mehr als 700 Leichen entdeckt. Rund 90 Prozent davon sollen Zivilisten gewesen sein. Die Russen verlegen ihre Einheiten zunehmend in den Osten.

Kiew (Kyjiw) – Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar sind mehr als 8.300 Zivilisten getötet worden, darunter 437 Kinder. Das erklärte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin laut einem Bericht des Internetportals "Unian" vom Sonntag. Mehr als 11.000 Menschen seien verletzt worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte Kostin zufolge aber höher liegen, da ukrainische Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten noch keinen Zugang hätten.

Die ukrainischen Behörden registrierten den Angaben zufolge mehr als 45.000 Kriegsverbrechen. 216 Personen seien als mutmaßliche Kriegsverbrecher gemeldet worden, darunter 17 russische Kriegsgefangene. Von 60 Personen angeklagten Personen seien bisher zwölf verurteilt worden.

Die ukrainischen Behörden stoßen in befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Donezk nach offizieller Darstellung auf immer mehr Beweise für Gräueltaten der einstigen russischen Besatzer. In den vergangenen zwei Monaten seien in diesen Gebieten bereits über 700 Leichen entdeckt worden, hatte Kostin am Samstagabend im Staatsfernsehen gesagt. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilpersonen gehandelt.

Ukraine: "Verhandlungen mit Russland kämen Kapitulation gleich"

Die Ukraine hat Vorschläge zu Verhandlungen mit Russland erneut zurückgewiesen. "Wenn man auf dem Schlachtfeld die Initiative ergreift, ist es etwas bizarr, Vorschläge zu erhalten wie: 'Ihr werdet sowieso nicht alles mit militärischen Mitteln erreichen, ihr müsst verhandeln'", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak im AFP-Interview in Kiew. Dies würde bedeuten, dass das Land, "das seine Gebiete zurückgewinnt, vor dem Land kapitulieren muss, das verliert".

US-Medien hatten kürzlich berichtet, hochrangige US-Vertreter würden die Ukraine zunehmend dazu drängen, Verhandlungen mit Russland in Erwägung zu ziehen. Der ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat entsprechende Vorschläge ohne einen vorherigen Rückzug der russischen Truppen aus der gesamten Ukraine bisher abgelehnt. US-Generalstabschef Mark Milley hatte zudem kürzlich gesagt, ein militärischer Sieg sei wahrscheinlich nicht mit militärischen Mitteln zu erreichen.

Podoljak zufolge hat Moskau Kiew bisher "keinen direkten Vorschlag" für Friedensgespräche unterbreitet. Stattdessen ziehe Russland es vor, diese über Vermittler zu überbringen und einen Waffenstillstand ins Gespräch zu bringen.

Kiew betrachtet solche Gespräche als Manöver Moskaus, um Zeit zu gewinnen und eine neue Offensive vorzubereiten. "Russland will keine Verhandlungen. Russland führt eine als 'Verhandlungen' bezeichnete Kommunikationskampagne", sagte Podoljak in dem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP.

Daneben seien etwa 20 Orte entdeckt worden, an denen Zivilisten verhört und in Gefangenschaft gehalten worden seien, erklärte er weiter. "Wir haben praktisch in fast jedem Dorf in der Region Charkiw Stellen gefunden, an denen sie friedliche Zivilisten getötet haben", sagte Kostin. Eine ähnliche Situation fänden die Ermittler jetzt in der vor kurzem befreiten Region Cherson in der Südukraine vor. "Und jeden Tag erhalten wir neue Informationen."

Russische Gräueltaten in befreiten Gebieten entdeckt

Die russischen Streitkräfte verlegen nach Erkenntnissen des ukrainischen Generalstabs aus dem Gebiet Cherson abgezogene Einheiten in die Gebiete Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine. In Luhansk richteten die russischen Besatzer zusätzliche Kontrollpunkte ein, um Deserteure zu identifizieren und festzunehmen, hieß es demnach am Sonntag. Die russische Armee greife zwar massiv mit Raketen an, es sei aber noch zu früh, von einer neuen Großoffensive zu sprechen.

Das erklärte der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat, dem Internetportal "Ukrajinska Prawda" zufolge im ukrainischen Fernsehen. Es komme aber im Donbass in der Ostukraine zu schweren Kampfhandlungen.

Die russischen Truppen hatten erst vor kurzem die Großstadt Cherson sowie das umliegende Gebiet nordwestlich des Flusses Dnipro geräumt und sich unter dem Druck der ukrainischen Streitkräfte auf die östliche Seite des Dnipro zurückgezogen.

Seit Samstag konnten ukrainische Einheiten dem Generalstab zufolge zahlreiche russische Angriffe in den Gebieten Luhansk und Donezk abwehren. Das ukrainische Militär zählte rund 60 russische Attacken mit Raketenwerfern. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Trotz eines relativ geordneten Rückzugs der russischen Truppen aus dem ukrainischen Gebiet Cherson sind Moskaus Streitkräfte nach Einschätzung britischer Militärexperten von Führungsschwäche und einer Kultur der Vertuschung geprägt. Das geht aus dem täglichen Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums in London am Sonntag hervor. Demnach mangelt es auf mittlerer und unterer Befehlsebene an militärischer Führung.

Stromversorgung unter Kontrolle

Die Ukraine sieht unterdessen die Versorgung mit Strom im Land trotz der zahlreichen russischen Angriffe auf die Stromerzeugungsinfrastruktur unter Kontrolle. "Wir dementieren die in sozialen Netzwerken und Online-Medien verbreiteten Panikmeldungen und versichern Ihnen, dass die Lage zwar schwierig, aber unter Kontrolle ist", erklärte das ukrainische Ministerium für Energie am Samstag. Zuvor hatten die Kiewer Behörden erklärt, dass eine vollständige Abschaltung des Stromnetzes in der Hauptstadt nach den russischen Angriffen nicht auszuschließen sei.

Die Ukraine wies Vorschläge zu Verhandlungen mit Russland erneut zurück. Wenn man auf dem Schlachtfeld die Initiative ergreift, ist es etwas bizarr, Vorschläge zu erhalten wie: 'Ihr müsst verhandeln'", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak in Kiew. Dies würde bedeuten, dass das Land, "das seine Gebiete zurückgewinnt, vor dem Land kapitulieren muss, das verliert".

Das Atomkraftwerk Saporischschja wird unterdessn russischen Angaben zufolge beschossen. Die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert den russischen Energiekonzern Rosenergoatom mit der Darstellung, die Ukraine habe in die Nähe einer nuklearen Lagereinrichtung geschossen. Messungen zufolge sei keine radioaktive Strahlung ausgetreten.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA/IAEO) bestätigte mehrere starke Explosionen am AKW Saporischschja. IAEA-Experten an Ort und Stelle hätten von Dutzenden Einschlägen in der Nähe und auf dem Gelände der größten europäischen Atomanlage berichtet, teilte die Behörde am Sonntag mit. "Wer auch immer dahintersteckt: Es muss umgehend aufhören", verlangte IAEA-Chef Rafael Grossi. "Wie ich schon oft gesagt habe: Ihr spielt mit dem Feuer!" (APA/dpa/Reuters)

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