Auch Unterlagen entdeckt

Nach Rückeroberung: Ukraine entdeckte russische Folterstätten in Cherson

Der zerstörte Internationale Flughafen von Cherson.
© BULENT KILIC

Die russischen Besatzer haben nach Angaben Kiews vier Folterstatätten zurückgelassen. Dort sollen Gefangene brutal misshandelt worden sein – mit Knüppeln, Holzschlägern und Stromschlägen.

Kiew, Moskau – Nach der Rückeroberung der südukrainischen Stadt Cherson haben ukrainische Ermittler nach eigenen Angaben vier von den russischen Besatzern genutzte Folterstätten entdeckt. In den Gebäuden hätten die „russischen Besatzer Menschen illegal festgehalten und brutal gefoltert", teilte die Generalstaatsanwaltschaft am Montag in Kiew mit. Unterdessen lieferten sich russische und ukrainische Truppen am Montag heftige Gefechte im Donbass.

„Teile von Gummiknüppeln, ein Holzschläger" oder ein „Gerät zum Erzeugen von Stromschlägen" seien sichergestellt worden. Nach Darstellung Kiews richteten die russischen Streitkräfte während ihrer achtmonatigen Besatzung Chersons in vorherigen Haftzentren und Polizeiwachen „Pseudo-Strafverfolgungsbehörden" ein. Die russischen Behörden hätten zudem Unterlagen zur Verwaltung dieser Gefangenenlager zurückgelassen. Die Ermittlungen zu weiteren Folterstätten und unrechtmäßigen Inhaftierungen würden fortgesetzt, hieß es weiter. Ziel sei es auch, „alle Opfer zu identifizieren".

Seit der Befreiung Chersons durch die ukrainischen Streitkräfte am 11. November hat Kiew wiederholt russische „Kriegsverbrechen" und „Gräueltaten" in der Region angeprangert. Ein Einwohner Chersons berichtete vergangene Woche der Nachrichtenagentur AFP über seine wochenlange Inhaftierung, während der er von russischen und pro-russischen Kräften verprügelt und mit Stromschlägen traktiert worden sei. Eine Reaktion Moskaus auf die Vorwürfe blieb bisher aus.

Russen konzentrieren sich auf Verteidigung von Gebieten

Nach ihrem Rückzug über den Fluss Dnipro in der Südukraine konzentrieren sich die russischen Kräfte nach britischer Einschätzung auf die Verteidigung der Stadt Swatowe im Osten des Landes. Dort seien die russischen Truppen nun am verletzlichsten, teilte das Verteidigungsministerium in London am Montag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit.

Russland konzentriere seine Angriffe auf die Städte Awdijiwka und Bachmut im Gebiet Donezk, teilte indes der ukrainische Generalstab am Montagabend mit. An anderen Orten sprach der Generalstab von einer „aktiven Verteidigung" der russischen Truppen – dort greifen also offenbar die Ukrainer an. Genannt wurden die Orte Kupjansk und Lyman sowie Nowopawliwka und die Front im Gebiet Saporischschja. Die russischen Truppen wehrten sich mit Panzern, Mörsern, Rohr- und Raketenartillerie.

Die Angaben des ukrainischen Militärs waren zunächst nicht unabhängig überprüfbar. Dem offiziellen Bericht zufolge verstärkten die russischen Truppen in der Südukraine ihre Verteidigungslinien auf dem südlichen Ufer des Stromes Dnipro. Nach inoffiziellen Angaben nimmt die ukrainische Artillerie diesen Raum in Richtung Krim mit ihrer weittragenden Artillerie unter Feuer. Russische Militärblogger berichteten von einem erfolgreichen russischen Vorstoß auf den Ort Marjinka bei Donezk.

WHO: Hunderte Attacken auf Gesundheitsinfrastruktur

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat seit Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine mehr als 700 Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur in dem Land registriert. "Das ist ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und die Kriegsregeln", sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge am Montag in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Folglich seien Hunderte Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen nicht länger voll funktionsfähig, weil es an Brennstoff, Wasser und Strom mangle.

"Das ist die größte Attacke auf die Gesundheitsversorgung auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg", unterstrich Kluge vor allem im Hinblick auf die russischen Angriffe auf das ukrainische Energiesystem.

Den Ukrainerinnen und Ukrainern stehe ein "lebensbedrohlicher Winter" bevor, sagte Kluge weiter. Hunderttausende Häuser und Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser seien ohne Heizung. Zehn Millionen Menschen seien ohne Strom. Das stelle mit Blick auf den kommenden Winter und Temperaturen bis zu minus 20 Grad Celsius ein dramatisches Gesundheitsrisiko dar. "Kaltes Wetter kann tödlich sein", sagte Kluge. Nicht nur drohten Atemwegsinfektionen wie Covid-19, gegen die große Teile der Bevölkerung nicht ausreichend immun seien.

Gesundheitsgefahr drohe auch dadurch, dass "verzweifelte Familien versuchen, sich warm zu halten" und auf alternative Heizmethoden mit Kohle oder Holz oder die Verwendung von Generatoren zurückgriffen. "Dies birgt gesundheitliche Risiken durch giftige Substanzen, die für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen schädlich sind, sowie Verbrennungen und Verletzungen durch Unfälle", erklärte der WHO-Regionaldirektor.

Sein Kollege Jarno Habicht berichtete, dass WHO-Mitarbeiter Zugang zu der kürzlich befreiten südukrainischen Großstadt Cherson erhalten hätten. So seien Medikamente, medizinische Ausrüstungen und Generatoren in das Gebiet geliefert worden. Insgesamt seien seit dem Beginn der russischen Invasion im Februar mehr als 2000 Tonnen an medizinischen Gütern in die Ukraine geliefert worden. Stand November seien darunter 400 Generatoren gewesen, um die weite Landesteile betreffenden Stromausfälle in Krankenhäusern zu überbrücken.

Polen bringt Luftabwehrsystem an Grenze

Unterdessen will Polen zusätzliche Patriot-Luftabwehrsysteme an der Grenze zur Ukraine in Stellung bringen. Das teilte der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak in Bezugnahme auf ein entsprechendes Angebot aus Deutschland mit. „Wir haben Polen angeboten, bei der Absicherung des Luftraums zu unterstützen – mit unseren Eurofightern und mit Patriot-Luftverteidigungssystemen", hatte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) der Rheinischen Post gesagt. Als Konsequenz aus dem Vorfall in der vorigen Woche müsse die Luftverteidigung im NATO-Bündnis besser aufgestellt werden. Vor einigen Tagen war eine verirrte Rakete in Polen abgestürzt, dabei starben zwei Menschen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am Montag den Widerstandswillen der Menschen in der Ukraine gewürdigt. „Wir sind bereit, das Letzte zu geben. Bereit, bis zum Schluss zu kämpfen", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft anlässlich des sogenannten „Tages der Würde und Freiheit". Die Ukraine habe einen sehr hohen Preis für die Freiheit gezahlt und werde ihn auch weiterhin zahlen, sagte der Staatschef mit Blick auf die Tausenden Kriegsopfer.

Mit dem „Tag der Würde und Freiheit" erinnert die Ukraine an den Beginn der blutigen Euromaidan-Proteste 2013/14. Auslöser war damals der Beschluss des russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. (APA, dpa, Reuters)

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