Politische und literarische Weckrufe bei der Buch Wien
2021 war Russland Gast auf der Buch Wien. Heuer ist der russische Angriff auf die Ukraine bestimmendes Thema der ersten Messetage. Eröffnungredner Herfried Münkler skizzierte den „bitteren Weg in eine neue Weltordnung“.
Von Joachim Leitner
Wien – Isidor Geller hat die Zeichen der Zeit zu lange nicht sehen wollen. Geller war wohlhabend und bestens vernetzt in Wien, Kommerzialrat, Kunstmäzen, einer, der an den besten Adressen der Stadt ohne Termin ein- und ausging. Doch dass Wind und Stimmung sich drehten, hat Isidor Geller nicht wahrhaben wollen. „Offenbar war er sich sicher, ihm würde nichts passieren“, sagt Shelly Kupferberg. Die in Israel geborene und in Berlin lebende Journalistin hat ein Buch über Geller geschrieben. Isidor – so heißt auch Kupferbergs dokumentarischer, im Diogenes-Verlag erschienener Roman – war ihr Urgroßonkel. Kupferberg hat den ehrgeizigen Aufstieg Gellers vom ostgalizischen Schtetl ins Herz des ersten Wiener Bezirks und seinen schnellen Fall nach dem „Anschluss“ akribisch recherchiert. Isidor Geller starb vollkommen verarmt im November 1938. Seinem Neffen Walter gelang die Flucht. Auch davon erzählt Kupferberg. Und von Walters Rückkehr nach Wien. Davon wie er an der Tür seiner früheren Wohnung mit „Der Jud’ is wieda do!“ begrüßt – und weggeschickt – wird, vom Antisemitismus der Nachkriegszeit also, von bösen Bürgern in schönen Altbauten, von Demütigung und Kränkung.
Bei der Literaturmesse Buch Wien stellt Kupferberg „Isidor“ dieser Tage vor. Heute Abend etwa im Café Museum – nur wenige Schritte von jenem Haus entfernt, aus dem Isidor Geller 1938 vertrieben wurde.
Die Buch Wien findet heuer zum vierzehnten Mal statt. Am Mittwochabend wurde sie eröffnet. Mehr als 300 Aussteller präsentieren sich und ihre Neuerscheinungen. Rund 400 Veranstaltungen sind angesetzt. Aus Tirol haben sich etwa Lavant-Preisträger Alois Hotschnig, Elisabeth R. Hager und der im Programmheft als „Thriller-Gott“ gepriesene Bernhard Aichner angekündigt. Am Sonntag diskutiert Carolina Schutti mit Christoph Thun-Hohenstein über Auslandskulturpolitik in Zeiten geopolitischer Herausforderungen.
Diese Herausforderungen waren bereits am ersten Messeabend bestimmendes Thema: Die ukrainische Autorin Marjana Gaponenko, Josef Haslinger, bis vor Kurzem Vorsitzender des deutschen PEN, und Susanne Scholl, langjährige ORF-Korrespondentin, erörterten durchaus kontrovers den „Ukraine-Krieg und die Folgen“. Gaponenko verglich Russlands aktuelle Attacken auf ukrainische Infrastruktur mit dem stalinistischen Holodomor (Hungermord) der 30er-Jahre. „Das ist ein Cholodomor (Kältemord)“, erklärte sie. Haslinger machte sich – „auch wenn das dem Mainstream widerspricht“ – für Friedensverhandlungen stark. Für Scholl würde nur ein Putsch gegen Russlands Präsident Putin Russland an den Verhandlungstisch führen.
Auch die ukrainischen Autoren Juri Andruchowytsch und Andrej Kurkow werden in Wien auftreten. Kurkow reist danach nach Innsbruck weiter. Am Sonntag um 14 Uhr stellt er sein „Tagebuch einer Invasion“ im Literaturhaus am Inn vor.
Die Eröffnungsrede der Buch Wien hielt der deutsche Politologe Herfried Münkler. Auch sein Vortrag kreiste um den russischen Angriff auf die Ukraine. Münkler versteht den Krieg als Abschied von der „Vorstellung einer regelbasierten, auf Werten begründeten und von Normen getriebenen Weltordnung“. Noch 2021 war Russland als erstes und bislang einziges Gastland stark auf der Buch Wien vertreten. Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels, begrüßte damals eine „Großmacht der Weltliteratur“ auf der Messe. Seine heurigen Grußworte begann er denn auch mit dem Eingeständnis seiner „nicht immer ganz zuverlässigen“ politischen Urteilskraft.
Münkler hat seine Rede mit „Enttäuschungsverarbeitung“ überschrieben. Er zeichnet darin den „bitteren Weg in eine andere Weltordnung“ nach – und umreißt Europas mögliche Rolle dabei. Die EU, so Münkler, müsse wieder zum „politisch handlungsfähigen Akteur“ werden und erkennen, dass „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ gescheitert sei. „Seit dem russischen Drohen mit nuklearer Eskalation ist auch die Hoffnung auf eine weitreichende Verringerung der Atomwaffen dahin“, konstatiert der Politikwissenschafter. Der Erwartungshorizont, den Europa noch zu Beginn des Jahres vor sich hatte, habe sich in nichts aufgelöst, erklärt Münkler. Konkret heiße das: „Militärische Macht wird wieder eine deutlich größere Rolle spielen, die Sicherung des Friedens vom Westbalkan bis zum Kaukasus unter Einschluss der Ukraine wird uns EU-Europäern erhebliche Ressourcen abverlangen, und all das hat zur Folge, dass die Europäer wohl auf Jahrzehnte hinaus den Höhepunkt ihres Wohlstands überschritten haben dürften.“ Gefragt sei nun „effektive Enttäuschungsverarbeitung“, sprich das Akzeptieren, dass sich eine neue Weltordnung entwickle: fünf große Mächte – die USA, China, die EU und Russland sowie Indien „als Zünglein an der Waage“ –, „die nach den Grundsätzen von Gleichgewicht und Übergewicht aufeinander einwirken“. Dazu würden künftig auch immer wieder Allianzen mit Staaten in Südostasien und in Lateinamerika, in Afrika und in der islamischen Welt eine gewichtige Rolle spielen. Auf diese Neuformatierung der politischen Konstellationen müsse sich Europa so schnell wie möglich einstellen – „wer sich dabei zu viel Zeit lässt, hat schon verloren“, unterstreicht Herfried Münkler.
Die Kollateralschäden des Kriegs in der Ukraine haben aktuell auch den Buchmarkt im Griff – Papier- und Energiekosten etwa sind massiv gestiegen. HVB-Präsident Föger hob zum Messestart die schwierige wirtschaftliche Situation der Branche hervor – und appellierte an die Politik: „Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir wirklich Hilfe brauchen.“