TT-Lokalaugenschein in der Republik Moldau: Warten auf den Frieden
Die Republik Moldau, eines der ärmsten Länder Europas, hat rund 95.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Viele Menschen dort wissen nicht, wie es weitergehen soll. Ein Lokalaugenschein.
Chisinau, Tudora – Edward holt sein Handy aus der schwarzen Brusttasche. Auf dem Foto, das er dann herzeigt, sind eingestürzte Mauern, verkohlte Holzbalken und Schutt zu sehen. Die Trümmer seiner Existenz. „Das war mein Zuhause“, sagt der junge Mann. Eine russische Rakete schlug neben dem Gebäude ein, das im ukrainischen Mariupol stand, und zerstörte es. Noch als der Krieg ausbrach, versteckten sich dort er und rund ein Dutzend Verwandter. Frauen und Kinder schliefen im Keller, die Männer hielten sich in den oberen Stockwerken auf, weil unten kein Platz mehr für sie war. Knapp eine Woche nach der Invasion packten Edward, sein Bruder Daniil und ihr Cousin Ivan ihre Sachen und flohen gemeinsam mit ihren jungen Familien aus der belagerten Stadt.
„Wir wollten die Ukraine verlassen und einen sicheren Ort für unsere Töchter suchen“, erzählt Daniil. Monatelang ziehen sie durch das Land, leben mal hier, mal da, einige Zeit auch in Odessa. Vor einigen Wochen wurde die Grenze zum Nachbarland Moldau überquert. Wie Edward und Daniil das schafften, obwohl für Männer im wehrfähigen Alter ein Ausreiseverbot gilt, wollen sie nicht sagen. Für Ivan war das kein Problem, er ist moldauischer Staatsbürger. Die Gruppe findet bei seiner Mutter Lydia auch Unterschlupf.
Diese wohnt seit Mitte der 1970er-Jahre in dem Haus im Dorf Tudora, seit dem Tod ihres Mannes vor knapp sechs Jahren alleine. Ein Lager, eine Küche, ein Bad, vier Zimmer. „Bevor sie zu mir gekommen sind, haben sie angerufen und gefragt, ob das in Ordnung wäre“, sagt die 68-Jährige. „Ich habe sofort zugestimmt. Groß ist es nicht, aber Platz ist für alle da.“ Katzen tollen über den Hof, die Blätter der Weinreben haben herbstliche Farben angenommen, am Boden liegt Spielzeug. Hier haben die drei Männer, ihre Frauen und Kinder erst einmal vor zu bleiben.
Hilfsorganisation Concordia
Ulla Konrad in „Tirol Live“ zur Lage in Moldau: „Große Armut im gesamten Land“
Nach dem russischen Überfall am 24. Februar dieses Jahres kamen mehr als 680.000 ukrainische Flüchtlinge in die Republik Moldau. Meistens nur vorübergehend, knapp 95.000 Menschen blieben aber im 2,6-Millionen-Einwohner-Land, das zu den ärmsten Europas zählt. Nur 3500 Vertriebene sind in öffentlichen Aufnahmezentren untergebracht, alle anderen bei Bekannten oder Angehörigen. Beide Nationen waren einst Teil der Sowjetunion, auch heute gibt es deshalb noch enge freundschaftliche und familiäre Bande.
Moldauerinnen und Moldauer hatten es schon vor Kriegsbeginn nicht leicht. Hohe Arbeitslosenquote, geringe Löhne, eine überalterte Gesellschaft. Wer konnte, suchte sich im Ausland einen Job. Nun toben im Nachbarstaat Gefechte, deren Auswirkungen der Bevölkerung zusätzlich zu schaffen machen. Die Inflation liegt bei über 30 Prozent, bis Anfang des Jahres war der Staat zu 100 Prozent von russischem Gas abhängig, aktuell zirka zu 80 Prozent. Energie ist teuer, der Strom fällt immer wieder aus, viele können sich das Heizen nicht mehr leisten.
Trotzdem versuchen die Menschen, irgendwie mit der Situation zurechtzukommen. Und darüber hinaus den ukrainischen Flüchtlingen eine sichere wie angenehme Bleibe auf Zeit zu bieten. „Es ist ein kleines Land mit einem sehr großen Herz“, sagt Stella Avallone, Österreichs Botschafterin in Moldau, bei einem Hintergrundgespräch in der Hauptstadt Chisinau. Ohne Hilfe aus Europa, die nach und nach anläuft, würde der soziale Frieden im Land auf eine harte Probe gestellt, meint sie.
Wer schon seit rund 18 Jahren in der ehemaligen Sowjetrepublik hilft, ist die österreichische Organisation Concordia. Zur eigentlichen Aufgabe, der Unterstützung von Kindern und alten Menschen, kommt seit gut neun Monaten auch das Engagement für die ukrainischen Flüchtlinge – Essen wurde verteilt, Obdach geboten, das Nötigste zum Leben gestellt.
Auch in Tudora, wo einer der 56 von Concordia im Land betriebenen sozialen Dienste besteht. Alle zwei bis drei Wochen werden dort Pakete an Vertriebene verteilt. Darin befinden sich Nudeln, Salz, Fleisch, Thunfisch in Dosen, andere Konserven, Putz- oder Hygieneartikel. Geplant ist, dass das Angebot künftig ebenso die zahlreichen bedürftigen Moldauer nutzen können.
Edwards, Daniils und Ivans Familien werden schon jetzt unterstützt. Von Concordia haben sie Lebensmittel und Windeln für die Kinder bekommen. Noch haben die drei keinen Job gefunden, Lydias Pension – 100 Euro im Monat – reicht nicht, um über die Runden zu kommen. Wie lang soll das noch so gehen? „Wir wissen nicht, wann der Krieg endet“, sagt Edward. „Wenn Mariupol befreit ist, habe ich vor heimzukehren.“ Bis dahin bleibt ihm nichts als Warten.