Wasser- und Stromversorgung für sechs Mio. Menschen in Kiew repariert
Einen Tag nach den jüngsten russischen Raketenangriffen auf die ukrainische Infrastruktur sind in der Hauptstadt Kiew den Behörden zufolge alle Einwohner wieder an die Wasserversorgung angeschlossen. Auch bei der Stromversorung gibt es große Fortschritte.
Kiew, Moskau – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat von Fortschritten bei der Wiederherstellung der Stromversorgung nach den jüngsten russischen Angriffen berichtet. Innerhalb von 24 Stunden sei die Versorgung für sechs Millionen Menschen wieder hergestellt worden", sagte Selenskyj am Samstagabend. "Die Reparaturarbeiten werden ohne Pausen fortgesetzt nach den gestrigen Attacken der Terroristen." Russland vermeldete indes eigene Angriffe im Gebiet Donezk.
Es seien dabei Gegenattacken der ukrainischen Armee abgewehrt und im Ergebnis vorteilhafte Positionen eingenommen worden, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow am Samstag in Moskau. Dort seien Sabotage- und Aufklärungsgruppen der ukrainischen Streitkräfte sowie ein Lager mit ausländischen Söldnern vernichtet worden. Dagegen teilte das ukrainische Militär mit, dass Durchbrüche der Russen an der Verteidigungslinie verhindert worden seien. Zu den massiven Raketenangriffen vom Freitag sagte Konaschenkow, es seien "alle anvisierten Objekte (...) zerstört" worden.
In einem von Russland besetzten Dorf in der Ostukraine sind nach russischen Angaben drei Menschen durch ukrainischen Beschuss getötet worden. In Schtschastia in der Region Luhansk seien Raketen des US-Typs Himars eingeschlagen, teilten die von Russland eingesetzten Behörden mit. Fünf weitere Menschen seien verletzt, vier Häuser zerstört worden.
Russen schossen 74 Raketen am Freitag auf Ukraine
Bei russischem Beschuss der südukrainischen Stadt Cherson ist Behördenangaben zufolge ein Mann getötet worden. Der 36-Jährige sei in seinem Auto ums Leben gekommen, als russische Truppen den westlichen Teil der Stadt mit Artillerie und Raketen angegriffen hätten, teilte Regionalgouverneur Jaroslaw Janukowitsch auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit. Zudem sei eine 70-jährige Frau verletzt worden. Die ukrainischen Streitkräfte hatten die Stadt am 11. November zurückerobert.
Im ganzen Land schrillten die Sirenen, wie Behördenvertreter mitteilen. Die Militärverwaltung in Kiew rief die Bevölkerung über den Kurznachrichtendienst Telegram auf, Schutzräume aufzusuchen. Erst am Freitag hatte das russische Militär erneut massiv die zivile Infrastruktur in der Ukraine angegriffen und damit großflächig die Strom- und Wasserversorgung lahmgelegt. Dabei feuerte Russland mehr als 70 Raketen ab. Es war eine der schwersten Angriffswellen seit Beginn der Invasion am 24. Februar.
Am Samstag meldeten die Behörden unter anderem in Kiew und der Region Charkiw Fortschritte bei der Wiederherstellung der Versorgung. So gibt es nach Angaben von Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wieder fließendes Wasser für alle Einwohner der Stadt. Allerdings war ein Drittel der Bewohner weiterhin ohne Strom.
Selenskyj nahm die jüngsten russischen Angriffe in der Nacht auf Samstag zum Anlass, den Westen zur Lieferung von Luftabwehrsystemen zu drängen. Der Westen müsse gegenüber Russland "den Druck erhöhen", sagte er in seiner täglichen Videoansprache. Kiew möchte vom Westen sehr gern das hoch entwickelte Patriot-Luftabwehrsystem für seine Armee. Diesem Wunsch stand die NATO lange sehr zögerlich gegenüber. Inzwischen wollen die USA laut Medienberichten aber doch eines dieser Raketensysteme an die ukrainischen Truppen liefern. Eine offizielle Bestätigung dafür steht aber noch aus.
Allein am Freitag wurden nach Angaben der ukrainischen Armee von den russischen Streitkräften 74 Raketen abgefeuert. Selenskyj zufolge kam es in der Folge zu Stromausfällen in Kiew und 14 weiteren Regionen des Landes. Es werde derzeit an der Wiederherstellung der Versorgung gearbeitet.
"Unsere Ingenieure und Reparaturteams haben schon während des Luftalarms mit der Arbeit begonnen", sagte Selenskyj. Er warb bei seinen Landsleuten zugleich um Geduld: Das Stromnetz werde repariert - aber "das braucht Zeit".
Kreml zielt auf Energieversorgung von Zivilbevölkerung
Russland griff nach eigener Darstellung am Freitag Teile des militärisch-industriellen Komplexes sowie Verwaltungseinrichtungen der Energie-Branche und des Militärs in der Ukraine mit Präzisionswaffen an. "Als Ergebnis des Angriffs wurde der Transport von Waffen und Munition aus ausländischer Produktion vereitelt", heißt es in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums in Moskau. Ukrainische Rüstungsfabriken seien ausgeschaltet worden. Der russische Angriff, einer der größten seit dem Beginn des Krieges, legte umfangreiche Teile der zivilen ukrainischen Infrastruktur lahm.
Russland greift seit Wochen regelmäßig die Energie-Infrastruktur der Ukraine an. Millionen Menschen sind deshalb bei Minusgraden ohne Strom und Heizung. Laut dem staatlichen Energieversorger Ukrenergo ist etwa die Hälfte des ukrainischen Stromnetzes schwer beschädigt.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat unterdessen von den Kommandanten der Streitkräfte Vorschläge für das weitere Vorgehen in der Ukraine gefordert. Dies habe Putin am Freitag bei einem Beratungen im Hauptquartier der Einsatzführung der militärischen Spezialoperation, wie Russland den Krieg gegen die Ukraine bezeichnet, erklärt, melden die russischen Nachrichtenagenturen TASS und Interfax am Samstag. Putin habe den gesamten Freitag in dem Hauptquartier verbracht, sagte sein Sprecher Dmitri Peskow zu Interfax. Weitere Einzelheiten über Putins Besuch dort wurden nicht bekanntgegeben.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat weitere Gespräche mit Putin über eine Beendigung des Angriffskriegs gegen die Ukraine in Aussicht gestellt. "Unser Ziel ist, dass Russland seinen Angriffskrieg beendet und dass die Ukraine ihre Integrität verteidigt", sagte Scholz der Süddeutschen Zeitung (Samstagsausgabe). Dazu werde es "notwendig sein zu sprechen", erklärte Scholz.
Moskau soll in seinem Angriffskrieg in der Ukraine nach Einschätzung britischer Geheimdienste iranische Drohnen mittlerweile von einem anderen Standort aus einsetzen als bisher. Bei den Angriffen auf kritische Infrastruktur in den vergangenen Tagen seien neben luft- und seegestützten Marschflugkörpern höchstwahrscheinlich auch vom Iran bereitgestellte Drohnen eingesetzt worden, die aus der südrussischen Region Krasnodar gestartet worden seien, hieß es am Samstag im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter. (APA, Reuters)
Pressestimmen
Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine traditionelle Jahrespressekonferenz abgesagt; allem Anschein nach fällt auch seine Rede vor beiden Parlamentskammern aus.
Dazu meint die Neue Zürcher Zeitung am Samstag:
"Ein Symptom für den Zusammenbruch des Putin-Regimes ist dies selbstverständlich nicht. Aber es spiegelt die Sackgasse, in die sich der Staatschef mit dem fatalen Überfall auf die Ukraine begeben hat. Wie will er sich den Fragen in- und ausländischer Medien stellen, ohne auf die Misserfolge im Krieg eingehen zu müssen – oder zumindest auf die haarsträubenden Umstände, unter denen zwangsmobilisierte Bürger an die Front geschickt werden? (...)
Vielleicht dämmert dadurch einer wachsenden Zahl von Russen die simple Realität: Putin ist der Versager des Jahres. Mit seinem törichten Feldzug hat er nichts erreicht, sondern im Gegenteil die Grundprobleme Russlands nur verschärft: Der Lebensstandard sinkt, die demografische Krise verstärkt sich, Investoren suchen das Weite, die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor wächst, und der Sicherheitsapparat verschlingt Rekordsummen. Vor diesem Hintergrund eine Ansprache zur Lage der Nation auszuarbeiten, muss ein Alptraum sein, selbst für abgebrühte Propagandisten. Es scheint, als hätten Putins Redenschreiber schon kapituliert."
The Times (London):
"Der Krieg in der Ukraine befindet sich in einer kritischen Phase. Eine russische Großoffensive wird in den nächsten Wochen erwartet. Die ukrainische Militärführung ist bemüht, genügend Waffen und Luftabwehrsysteme zusammenzubekommen, um der inzwischen entschlosseneren und disziplinierteren russischen Taktik standhalten zu können. (...)
Bis vor kurzem konnte die Ukraine durch Überraschung, Täuschung, flexible Taktiken und eine überlegene Moral wichtige Städte und Teile des Landes zurückerobern. Doch das Gerede im Westen von einem bevorstehenden Sieg ist verfrüht. (...) Ein Maximum an westlicher politischer, militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung ist jetzt unerlässlich. Die Ukrainer brauchen keine Belehrungen über Kompromiss- oder Verhandlungsbereitschaft: Sie müssen zunächst sicherstellen, dass sie den kommenden russischen Ansturm zurückschlagen können. Sie brauchen Generatoren, Ausrüstung zur Reparatur der Stromnetze und Raketen."