Gründung der Sowjetunion: Eine 100 Jahre alte Klausel erzürnt Putin
Im Gründungsvertrag der UdSSR war das Recht der Sowjetrepubliken auf Austritt aus der Union verankert.
Wien – Am 30. Dezember 1922 erklärten vier Sowjetrepubliken die Gründung der UdSSR. Obwohl das größte Land der Erde damit formal seinen Anfang nahm, fand dieses Ereignis seinerzeit nur wenig Beachtung und stand im Schatten der Oktoberrevolution. Erst gegen Ende schien das Gründungsdokument von 1922 plötzlich relevant – auch weil ein Passus den Sowjetrepubliken ihr Recht auf Austritt aus der Union garantierte.
Obwohl aus der zunächst angestrebten Weltrevolution nichts wurde, blieb die Sowjetunion bis zu ihrem abrupten Ende 1991 als Supermacht ein maßgeblicher Faktor der globalen Politik. Lenins Nachfolger Josef Stalin schaltete sukzessive seine politischen Widersacher aus, errichtete eine vollwertige totalitäre Diktatur und trieb gleichzeitig die Industrialisierung des Landes auch mit gewaltsamen Mitteln voran.
Nach Jahren einer ideologisch begründeten Konfrontation paktierte Stalin aber auch mit seinem nationalsozialistischen Gegenüber Adolf Hitler und nutzte dieses Bündnis 1939/1940, um Teile von Polen und Rumänien sowie die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen der Sowjetunion anzuschließen. Nazideutschland überfiel dennoch 1941 die Sowjetunion, die sich nach schweren Niederlagen schließlich jedoch militärisch durchsetzen konnte. Nach Westen vormarschierende sowjetische Truppen befreiten nicht nur die von Nazis besetzten Länder Ost- und Mitteleuropas, sondern errichteten dort auch „Volksdemokratien“, die in der Folge jahrzehntelang maßgeblich von Moskau aus kontrolliert werden sollten. Mit dem Warschauer Pakt schuf die Sowjetunion 1955 einen Gegenpol zur NATO, die ihrerseits 1949 unter der Leitung der USA zur Eindämmung des sowjetischen Einflusses gegründet worden war.
100. Jahrestag
Was von der UdSSR blieb: Politische Verfolgung und Großmachtdenken bis heute
In wirtschaftlichen Belangen erwiesen sich die Sowjetunion und ihre Planwirtschaft als dauerhaft nur bedingt konkurrenzfähig zu dem marktwirtschaftlich organisierten Westen. Überfällige Reformen wurden von einer zunehmend alternden Staats- und Parteispitze lange Zeit nicht in Angriff genommen.
Als der vergleichsweise junge Michail Gorbatschow, der 1985 von den Gremien zum Generalsekretär der kommunistischen Partei gewählt worden war, versuchte, die wirtschaftliche Performance seines Landes zu verbessern, verschärfte sich die Krise. Gleichzeitig mehrten sich nationale Konflikte, die immer schwerer unter Kontrolle zu bekommen waren. Eliten in manchen der 15 Teilrepubliken begannen, offen nach einer Abspaltung vom sowjetischen Staat zu streben.
In diesem Zusammenhang erinnerten sie sich auch an den Gründungsvertrag vom 30. Dezember 1922, der 1990/1991 etwa von Parlamenten der georgischen, aserbaidschanischen, ukrainischen, belarussischen und russischen Sowjetrepubliken für ungültig erklärt wurde. Nach letzten Anstrengungen Gorbatschows, die Sowjetunion mit einem neuen Unionsvertrag zu retten, der das Dokument vom 30. Dezember 1922 ablösen sollte, besiegelten schließlich die Chefs von Russland, Weißrussland und der Ukraine im Dezember 1991 das endgültige Aus für die Sowjetunion.
Drei Jahrzehnte später machte Russlands Präsident Wladimir Putin für die seines Erachtens „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ insbesondere auch 1922 verantwortlich. Denn die Verankerung des Rechts auf freien Austritt aus der Sowjetunion in der Deklaration über die Gründung der Sowjetunion sowie in der sowjetischen Verfassung von 1924 sei das Hinterlassen einer äußerst gefährlichen „Mine mit Zeitzünder“ gewesen, beklagte er in einem Manifest über die „historische Einheit der Russen und Ukrainer“ im Sommer 2021.
In jener Fernsehrede, in der Putin am 21. Februar 2022 schließlich die Invasion der Ukraine zu legitimieren versuchte, wiederholte er diese Einschätzung und übte gleichzeitig heftige Kritik am sowjetischen Gründervater Lenin. Dieser habe aus unerfindlichen Gründen „grenzenlos wachsende nationalistische Ambitionen“ an den Rändern des ehemaligen Zarenreichs befriedigt und Sowjetrepubliken Territorien mit der Bevölkerung des historischen Russlands übergeben, sagte er mit Verweis auf die Ukraine. (TT, dpa)