Vergessene Katastrophen 2022: Afrika ist ein blinder Fleck
Von Angola über Malawi bis Kamerun: Die Hilfsorganisation CARE hat zehn humanitäre Katastrophen ins Rampenlicht gerückt, die im vergangenen Jahr medial kaum Beachtung fanden. Die russische Invasion in der Ukraine überdeckte vieles.
Wien – Krisen und Katastrophen auf dem afrikanischen Kontinent sind in der weltweiten Berichterstattung immer wieder zu kurz gekommen. Der jährliche Report „Breaking the Silence“ der Hilfsorganisation CARE, der anhand der Zahl der Online-Artikel weltweit ein Ranking der zehn am wenigsten mediale Aufmerksamkeit erregenden Krisenherde erstellt, bildete das in früheren Ausgaben sehr deutlich ab. Heuer ist es besonders drastisch: Alle zehn kaum wahrgenommenen Krisen liegen in Afrika.
Der Report erschien am Mittwoch zum siebenten Mal. Wenig verwunderlich wurde 2022 über den Krieg in der Ukraine und die dazugehörige humanitäre Krise mit mehr als zwei Millionen Online-Artikeln am meisten berichtet. Gegenüber 2021 war das allerdings eine Kehrtwende: Im „Breaking the Silence“-Report des Vorjahres lag die Ukraine noch an zweiter Stelle.
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CARE analysierte wieder in Kooperation mit dem Medienbeobachtungsdienst Meltwater mehr als 5,8 Millionen Online-Berichte vom 1. Jänner bis 10. Oktober 2022 in den Sprachen Arabisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch. Herangezogen wurden Konflikte und Naturkatastrophen, von denen mindestens eine Million Menschen betroffen waren. Die unbeachteten Krisen im Detail:
📍 Angola
Die Klimakrise trifft das südwestafrikanische Land, eigentlich reich an Rohstoffen, voll. Im Süden herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. 3,8 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, 114.000 Kinder unter fünf sind unterernährt. Manche fliehen ins Nachbarland Namibia, in Angola selbst gibt es rund 16.000 Vertriebene und 2.000 Menschen in Notunterkünften. Dazu kommt, dass Angola unter den vier Ländern mit den höchsten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln wie Getreide und Speiseöl liegt - ausgelöst durch den Ukrainekrieg. Gerade einmal 1.847 Online-Artikel gab es dazu.
📍 Malawi
Das südostafrikanische Land war bereits in den letzten beiden Berichten vertreten. Verändert hat sich wenig - und wenn, dann zum schlechten. 5,4 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, 37 Prozent der Kinder sind mangelernährt, zehn Prozent der Bevölkerung sind HIV-infiziert. Fast eine Million Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Wiederaufbauarbeiten nach dem Durchzug des Zyklons „Idai“ im Jahr 2019 waren oft vergeblich, weil sie der Zyklon „Ana“ Anfang 2022 wieder zunichte machte. Neben den Wirbelstürmen und langen Dürreperioden wird das Land derzeit von einem der schlimmsten Choleraausbrüchen getroffen. 2.330 Artikel gab es dazu.
📍 Zentralafrikanische Republik
Das Land tauchte bisher noch in jedem „Breaking the Silence“-Report auf, nach Platz vier im Vorjahr heuer auf Platz drei. Seit 2013 tobt in der Zentralafrikanischen Republik Krieg, 740.000 Menschen sind vertriebe, von denen 480.000 Binnenflüchtlinge sind. Das Land liegt auf Platz 188 von 191 im Human Development Index der Vereinten Nationen. 63 Prozent der Bevölkerung oder 3,1 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe, 71 Prozent leben unter der Armutsgrenze. Die Lebenserwartung liegt bei 53,3 Jahren und ist eine der niedrigsten weltweit. Die Gewalt gegen Frauen steigt stark: Im ersten Halbjahr 2022 wurden mehr als 11.700 Fälle registriert, mehr als im ganzen Jahr 2021. 3.711 Online-Artikel befassten sich mit dem Thema.
📍 Sambia
Sambia lag im Vorjahr im „Breaking the Silence“-Ranking auf Platz eins. Zehn Prozent der Bevölkerung sind mit HIV infiziert, Frauen deutlich öfter als Männer. 2021 starben rund 19.000 Menschen an Aids. 60 Prozent der knapp 19 Millionen Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Auch die Kindersterblichkeit wegen Unterernährung ist hoch. Sambia wird wie viele Staaten der Subsahara von der Klimakrise besonders getroffen. Gewalt gegen Mädchen und Frauen ist weit verbreitet. In einigen Gebieten werden durchschnittlich 50 Fälle von Gewalt gegen Mädchen und Frauen pro Tag gemeldet. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. 5.086 Mal waren diese Fakten Thema von Online-Artikeln.
📍 Tschad
Auch der Tschad ist kein Neuling im Bericht über die vergessenen Krisen. Das Land in der Sahelzone ist eines der ärmsten der Welt. 6,1 Millionen Menschen (von geschätzt 16,4 Millionen) sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das Land leidet unter einer Nahrungsmittelkrise. Vier Millionen Menschen benötigen Lebensmittel. 1,7 Millionen Kinder sind laut CARE akut unterernährt. Zehn Prozent der Kinder im Tschad erleben ihren fünften Geburtstag nicht. Dazu kommen permanente Unruhen, die Aktivitäten der dschihadistischen Terrororganisation Boko Haram um den Tschadsee und etwa 575.000 Flüchtlinge aus der Sahelone, der größten Flüchtlingsgruppe. Weitere 381.000 Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Mit dem Tschad befassten sich 5.843 Online-Artikel.
📍 Burundi
Burundi ist traurigerweise mit einer Ausnahme noch in jeder CARE-Liste der vergessenen Katastrophen zu finden gewesen. Mehr als 70 Prozent der knapp 13 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze, 1,84 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe. 52 Prozent der Kinder sind chronisch unterernährt. Seit 2015 ist das Land am Tanganjikasee in einer Wirtschaftskrise, die durch den Krieg in der Ukraine weiter verschärft wurde. Auch der Klimawandel macht Burundi zu schaffen: Überschwemmungen und sintflutartige Regenfälle, zerstören die Felder, gefolgt von lang anhaltenden Dürren. Betroffen sind einmal mehr vor allem Frauen und Mädchen, die vor allem in der Landwirtschaft arbeiten, aber immer noch zu wenig Mitspracherecht haben. Burundi zum Thema hatten 5.942 Online-Artikel im Vorjahr.
📍 Simbabwe
Simbabwe ist wie sein Nachbarland Sambia massiv von den Folgen des Klimawandels betroffen. Lange Perioden der Dürre werden von schweren Regenfällen unterbrochen, die weitreichende Überschwemmungen auslösen. Rund die Hälfte der etwa 15,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner lebt in extremer Armut, 5,8 Millionen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Simbabwe muss auch mit Schwärmen der afrikanischen Wanderheuschrecke fertig werden. Auch in Simbabwe ist die HIV/Aids-Rate sehr hoch. Etwa 1,3 Millionen leben mit der Infektion, dazu kommt auch die starke Ausbreitung von Malaria. 7.786 Mal ging es in Online-Berichten um die Krise in Simbabwe.
📍 Mali
21 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner hat das riesige Land im Herzen der Sahelzone, und drei Viertel von ihnen leben in Armut. 7,5 Millionen benötigen gar humanitäre Hilfe. 300.000 Kinder leiden unter akuter Unterernährung. Die ohnehin vorhandene Ernährungskrise wird durch bewaffnete Konflikte verschärft. Hunderttausende Menschen sind heimatlos geworden und suchen im Land nach Schutz. Besonders leidtragend sind bei dem Konflikt einmal mehr Frauen und Kinder. In Kampfgebieten berichten Frauen über Fälle physischer, psychischer und sexueller Gewalt. Mali wurde 10.738 Mal in Online-Berichten thematisiert.
📍 Kamerun
Auch Kamerun ist in den letzten Jahren immer wieder von humanitären Krisen getroffen worden. Dazu kamen Naturkatastrophen, die Cholera und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und des Ukraine-Kriegs. 2022 waren 3,9 Millionen Menschen auf humanitäre Soforthilfe angewiesen. Der Norden Kameruns ist darüber hinaus destabilisiert. Milizen, darunter Boko Haram, überfallen die Zivilbevölkerung ebenso wie militärische Einrichtungen. Auch der Nord- und der Südwesten Kameruns leiden unter Unsicherheit und bewaffneter Gewalt. Die Folge sind rund eine Million Binnenflüchtlinge, dazu kommen etwa 340.000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik. Die Krise in Kamerun war 10.809 Mal ein Thema in Online-Artikeln im Vorjahr.
📍 Niger
Niger, wie das benachbarte Mali ein Binnenstaat in der Sahelzone, findet sich ebenfalls immer wieder auf den CARE-Berichten über die vergessenen Krisen. Zu Naturkatastrophen und einem hohen Maß an Unterernährung bzw. Ernährungsunsicherheit kommen zahlreiche Geflüchtete aus den Nachbarstaaten wegen bewaffneter Konflikte und Übergriffe. 580.000 Vertriebene gibt es in Niger, darunter 360.000 Flüchtlinge. 4,4 Millionen sind massiv von Ernährungsunsicherheit betroffen. 12.631 Online-Artikel haben die Situation in dem Land im Vorjahr beleuchtet. (APA)