Drei Babys nach über fünf Tagen gerettet, UNO befürchtet mehr als 50.000 Tote
Die Hoffnung, im Bebengebiet in der Türkei und Syrien weitere Überlebende zu finden, schwindet von Stunde zu Stunde. Doch es gibt immer wieder kleine Wunder. Mehr als 30.000 Tote wurden bisher geborgen, die UNO geht von deutlich mehr Opfern aus.
Gaziantep, Idlib – Eine knappe Woche nach den verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind laut offiziellen Zählungen mehr als 28.000 Menschen gestorben. Laut Schätzungen der UNO könnte die Zahl der Todesopfer jedoch noch auf mehr als 50.000 ansteigen. Unterdessen konnten die österreichischen Soldaten und Soldatinnen ihren Hilfseinsatz im Krisengebiet unter Schutz der türkischen Armee wieder aufnehmen. Der Einsatz war am Samstag wegen Sicherheitsbedenken unterbrochen worden.
Während die Hoffnung auf die Bergung lebender Männer, Frauen und Kinder zusehends schwindet, seien laut der Katastrophenschutzbehörde Afad in der Türkei bereits mindestens 29.605 Menschen ums Leben gekommen. Aus Syrien wurden zuletzt 3575 Tote gemeldet. Knapp 80.300 Verletzte wurden bisher registriert.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht mittlerweile davon aus, dass 26 Millionen Menschen in der Türkei und Syrien von der Katastrophe betroffen sein könnten, darunter etwa fünf Millionen Menschen, die ohnehin als besonders schutzbedürftig gelten. Mindestens 870.000 Menschen in beiden Ländern müssen nach Angaben der UNO mit warmen Mahlzeiten versorgt werden, bis zu 5,3 Millionen Menschen könnten allein in Syrien obdachlos geworden sein.
Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 zu Mittag. Seither gab es bis Samstag mehr als 2000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad mitteilte. Viele Menschen verloren ihr Zuhause: Nach Angaben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan suchten inzwischen mehr als 1,5 Millionen in Zelten, Hotels oder öffentlichen Notunterkünften Schutz.
Oktay sagte weiter, die Staatsanwaltschaften hätten auf Anweisung des Justizministeriums in zehn Provinzen, die von den Erdbeben betroffen waren, Abteilungen für die Untersuchung von Verbrechen im Zusammenhang mit den Erdbeben eingerichtet. Ermittelt worden seien 131 Menschen, die verantwortlich für Gebäude seien, die zusammengestürzt seien. Einer sei verhaftet worden. Gegen 113 weitere sei Haftbefehl erlassen worden.
Der türkische Städteminister Murat Kurum sagte, mittlerweile seien knapp 172.000 Gebäude in zehn Provinzen überprüft worden. Festgestellt worden sei, dass rund 25.000 schwer beschädigt worden seien oder dringend abgerissen werden müssten.
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Die Suche nach Verschütteten im Erdbebengebiet in der Türkei und Syrien wird immer schwieriger. Die Hoffnung, sechs Tage nach dem verheerenden Beben noch Überlebende aus den Trümmern zu retten, schwindet mit jeder Minute mehr.
Die schwierige Sicherheitslage an Ort und Stelle verlangsamte die Rettungsaktion verschiedener Hilfsgruppen am Samstag zusätzlich. Die österreichischen Soldaten und Soldatinnen – wie auch deutsche und ungarische Helfer – mussten ihren Einsatz zeitweise unterbrechen, weil die Arbeit zu gefährlich geworden war. Zunehmende Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei – Schusswechsel inklusive – hätte diese Entscheidung notwendig gemacht.
Zwischenzeitlich konnten die Österreicher ihre Arbeiten wieder aufnehmen. "Die türkischen Sicherheitskräfte schaffen uns ein sicheres Umfeld", sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis Sonntagvormittag. Am Samstag seien die Helfer ab dem Nachmittag noch bei zwei Einsätzen zum Teil bis in die Nacht aktiv gewesen, um örtliche Hilfsgruppen zu unterstützen.
Wundersame Rettung von drei Babys und weiteren Verschütteten
Tage nach dem Erdbeben wurden am Wochenende unter anderem drei Babys und ein sechsjähriger Bub aus den Trümmern gezogen. In der Provinz Hatay wurden eine schwangere Frau und ihr Bruder nach 140 Stunden sowie ein sieben Monate altes Baby von Rettungsteams aus einem eingestürzten Gebäude gezogen, wie Anadolu berichtete.
In Antakya sei ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt worden, berichtete der staatliche türkische Fernsehsender TRT. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben.
Ein zwei Monate altes Baby wurde in Mittelmeer-Gemeinde İskenderun lebend aus Trümmern geborgen. Der Säugling sei 128 Stunden lang unter Schutt begraben gewesen, bevor er herausgezogen und in ein Krankenhaus gebracht wurde, berichtete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu.
In Antakya wurde laut Anadolu zudem ein sechsjähriger Bub gerettet, der 137 Stunden lang unter Schutt begraben war. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht. In Iskenderun bargen Hilfskräfte auch einen 44-jährigen Mann nach 138 Stunden aus den Trümmern. In Kahramanmaras wurde ein 26-Jähriger aus den Trümmern eines elfstöckigen Gebäudes gerettet.
Obwohl sich das eigentlich kritische 72-Stunden-Fenster für die Rettung Verschütteter längst geschlossen hat, werden in der Katastrophenregion im türkisch-syrischen Grenzgebiet weiter Überlebende unter den Trümmern gefunden.
Menschen müssen bei eisigen Temperaturen ausharren
Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet. Unzählige Menschen müssen bei eisigen Temperaturen im Freien, in ihren Autos oder in Zeltnotlagern ausharren, weil sie obdachlos wurden oder ihre Häuser einsturzgefährdet sind. Vielerorts mangelt es an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten.
Zur besseren Versorgung der Überlebenden öffnete die Türkei einen Grenzübergang zu Armenien – trotz einer tiefen Feindschaft zum Nachbarland, berichtete Anadolu Ajansi. Fünf Lastwagen passierten mit humanitärer Hilfe einen Grenzposten in der türkischen Provinz Igdir. Zuletzt sei das 1988 nach einem Beben in der Ex-Sowjetrepublik Armenien möglich gewesen. "Lassen Sie uns etwas Gutes aus dieser großen Katastrophe herausholen. Solidarität rettet Leben!", twitterte der türkisch-armenische Politiker Garo Paylan. Die Landgrenze zwischen der Türkei und Armenien ist seit 1993 geschlossen. Das Verhältnis zwischen Ankara und Eriwan ist sowohl aus historischen Gründen als auch wegen des Konflikts um die Gebirgsregion Berg-Karabach schwer belastet. Die beiden Nachbarn unterhalten aber seit Ende 2021 wieder diplomatische Kontakte.
In Syrien ist der Hilfseinsatz besonders schwierig. Das Land steckt seit fast zwölf Jahren im Bürgerkrieg. Zur Erdbebenkatastrophenregion zählen Landesteile, die von der Regierung kontrolliert werden, aber auch Rebellengebiete. Am Freitag traf ein erster Hilfskonvoi der Vereinten Nationen im Norden Syriens ein. Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen. In dem Land kamen bei dem Beben mehr als 3553 Menschen ums Leben.
📽️ Video | Schleppende Erdbebenhilfe in Syrien
Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, traf am Samstag in Syrien ein, wie die Staatsagentur Sana meldete. Demnach will er nun Krankenhäuser und Notunterkünfte besuchen, um sich ein Bild der Lage zu machen. Er habe zudem 35 Tonnen medizinischer Ausrüstung für die Erdbebenopfer mitgebracht. Ein weiteres Flugzeug mit medizinischem Gut soll demnach innerhalb der nächsten zwei Tage im Land eintreffen. (APA, Reuters, dpa, TT.com)