Noch Tausende vermisst

Katastrophale Lage für Millionen Kinder im Bebengebiet, Brüder nach fast 200 Stunden gerettet

Die Chance noch Lebende aus den Trümmern zu bergen, schwindet zusehends.
© AFP/Kilic

Millionen Kinder brauchen laut UNICEF dringend humanitäre Hilfe. Tausende Menschen werden im Katastrophengebiet weiter vermisst. Der UN-Nothilfekoordinator dämpft die Hoffnung auf die Rettung Überlebender. Doch es gibt noch immer Wunder.

Gaziantep, Idlib – Mehr als eine Woche nach den verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Hoffnung gering, weitere Überlebende zu finden. „Die Rettungsphase, bei der Menschen lebend aus den Trümmern gezogen (....) werden, neigt sich dem Ende", sagte UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Montag in Aleppo. Zur Verbesserung der humanitären Hilfe in schwer zugänglichen Erdbebengebieten Syriens will Präsident Bashar al-Assad zwei weitere Grenzübergänge zur Türkei öffnen.

Bab Al-Salam und Al Ra'ee sollten für drei Monate geöffnet werden, berichtete Griffiths dem UNO-Sicherheitsrat am Montag mehreren Diplomaten zufolge. Bisher können die Vereinten Nationen nur über einen Grenzübergang (Bab al-Hawa) Hilfe in Gebiete liefern, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Der Nordwesten Syriens wird von verschiedenen Rebellengruppen kontrolliert.

📽️ Video | Grenzübergänge nach Syrien werden geöffnet

UNO-Generalsekretär António Guterres begrüßte die Entscheidung Assads: „Die Öffnung dieser Grenzübergänge – zusammen mit der Erleichterung des humanitären Zugangs, der Beschleunigung der Visagenehmigungen und der Erleichterung des Reisens zwischen den Drehkreuzen – wird es ermöglichen, dass mehr Hilfe schneller eintrifft."

Der syrische Machthaber hofft auf internationale Hilfe beim Wiederaufbau des Landes. Assad habe in einem Gespräch Griffiths am Montag „die Bedeutung internationaler Bemühungen" hinsichtlich der Hilfe bei der „Wiederherstellung der Infrastruktur in Syrien" betont, hieß es in einer von der syrischen Präsidentschaft veröffentlichten Erklärung.

„Das Leid der Menschen ist unbeschreiblich", berichtete der Koordinator für Humanitäre Hilfe von Hilfswerk International, Heinz Wegerer, am Dienstag in Wien über die Situation im Krisengebiet. Er kehrte erst am Montag aus der Türkei nach Österreich zurück. „Der Leichengeruch wird immer stärker", sagte der Nothelfer.

Die österreichische Organisation Hilfswerk International leistet in der schwer betroffenen Provinz Hatay Nothilfe. „Was ich dort gesehen habe, was ich dort miterlebt habe, ist schwer oder gar nicht in Worte zu fassen", berichtete er betroffen. Die verzweifelte Situation der Bevölkerung im Erdbebengebiet gehe ihm sehr nahe. In Iskenderun gibt es beispielsweise „vier parallele Straßenzüge, wo links und rechts sämtliche Gebäude zerstört sind", erzählte Wegerer. Nach wie vor liegen zahlreiche Vermisste unter den Trümmern, „vor den zerstörten Gebäuden sitzen Menschen und harren seit vergangenen Montag aus, sie hoffen auf ein Wunder", sagte er.

Der Koordinator für Humanitäre Hilfe beim Hilfswerk International Heinz Wegerer in Iskenderun in der Türkei.
© APA/Wegerer

Schnelle und unkomplizierte Hilfe sei nun dringend notwendig. In den ersten Tagen musste vor allem die lokale Bevölkerung den Großteil der humanitären Hilfe leisten. „Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen die Hilfe aufrecht erhalten können und einen langen Atem haben", betonte Wegerer. Bis zu 50 Hilfswerk-Mitarbeiter sollen das in der Türkei sicherstellen. Wegerer berichtete auch von Problemen bei der Nothilfe. Die staatliche Katastrophenschutzbehörde Afad „ist mit der Koordination offensichtlich überfordert".

Das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF warnte unterdessen vor der katastrophalen Lage für Millionen Kinder, die dringend humanitäre Hilfe brauchen. Die Gesamtzahl der betroffenen Buben und Mädchen bleibe unklar, jedoch leben laut UNICEF in den zehn von den Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei 4,6 Millionen Kinder. In Syrien sind mehr als 2,5 Millionen Kinder betroffen.

Wir müssen alles, das in unserer Macht steht, tun, um sicherzustellen, dass alle, die diese Katastrophe überlebt haben, lebensrettende Hilfe erhalten.
Catherine Russell, UNICEF-Exekutivdirektorin

„Die Kinder und Familien in der Türkei und Syrien stehen nach diesen verheerenden Erdbeben vor unvorstellbaren Schwierigkeiten", sagte Catherine Russell, UNICEF-Exekutivdirektorin am Dienstag. „Wir müssen alles, das in unserer Macht steht, tun, um sicherzustellen, dass alle, die diese Katastrophe überlebt haben, lebensrettende Hilfe erhalten, einschließlich sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, grundlegender Ernährungs- und medizinischer Versorgung sowie psychosozialer Unterstützung für Kinder. Nicht nur jetzt, sondern auch langfristig."

Auch das Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation WHO hat zu umfassender Hilfe für die vielen Erdbebenopfer aufgerufen. Der Bedarf sei riesig und wachse mit jeder Stunde, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge. Rund 26 Millionen Menschen in beiden Ländern bräuchten humanitäre Unterstützung. „Wir erleben die schlimmste Naturkatastrophe in der WHO-Region Europa seit einem Jahrhundert", sagte Kluge.

Mehr als 37.500 Tote, Jugendliche nach fast 200 Stunden gerettet

Die Zahl der bestätigten Toten lag bis Dienstag Früh bei mehr als 37.500, mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt. Tausende werden weiter vermisst. Helfer bargen noch am Montag einzelne lebende Verschüttete. Doch es gab weiterhin auch kleine Hoffnungsschimmer: Acht Tage nach dem verheerenden Erdbeben gibt es Medienberichte über drei Bergungen lebender Menschen aus den Trümmern. In der Provinz Kahramanmaras hätten Helfer am Dienstagmorgen zwei 17 und 21 Jahre alte Brüder gerettet, berichteten die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu und der Sender CNN Türk. Sie lagen demnach 198 Stunden unter den Trümmern. In der Provinz Adiyaman wurde demnach ein 18-Jähriger, der ebenfalls 198 Stunden verschüttet war, gerettet. Unabhängig überprüfen ließen sich die Angaben zunächst nicht.

📑 NGOs fordern temporäre Visaerleichterungen für Opfer

Mehrere NGOs fordern die österreichische Regierung auf, nach deutschem Vorbild eine temporäre Visaerleichterung für Opfer des Erdbebens in der Türkei und Syrien zu ermöglichen. Für Erdbebenopfer, die Verwandte ersten und zweiten Grades in Österreich haben, sollen unbürokratisch humanitäre Visa für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten ausgestellt werden, heißt es in dem von Volkshilfe, Diakonie, Caritas, ÖRK, Amnesty und der Allianz „Menschen.Würde.Österreich" unterzeichneten Appell.

Die Organisationen schlossen sich damit der Forderung des Vizepräsidenten des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), und des Wiener Integrationsrats an. Auch SPÖ und die mitregierenden Grünen hatten sich am Montag für temporäre Visaerleichterungen ausgesprochen. Das Innenministerium hatte diese Forderung am Montag bereits abgelehnt. Visaanträge von Erdbebenopfern sollen von den österreichischen Vertretungen raschestmöglich geprüft werden, aber die Kriterien der Vergabe nicht geändert werden, hieß es.

Überlebende, die jetzt noch gefunden werden, müssen Zugang zu Flüssigkeit gehabt haben – etwa zu Regenwasser, Schnee oder anderen Quellen. Normalerweise kann ein Mensch etwa 72 Stunden, also drei Tage, ohne Wasser auskommen, danach wird es lebensbedrohlich. Dieser Zeitraum ist bereits weit überschritten.

Schaden auf etwa 79 Milliarden Euro geschätzt

Unzählige Gebäude und Teile der Infrastruktur wurden zerstört. Ein Bericht des Türkischen Unternehmens- und Geschäftsverbands Türkonfed schätzt den Schaden nach den Beben auf etwa 84 Milliarden Dollar (rund 79 Milliarden Euro).

Die schweren Beben haben dabei nach Daten von Satelliten womöglich auch langfristige geologische Folgen. „In der Küstenstadt Iskenderun scheint es erhebliche Absenkungen gegeben zu haben, die zu Überschwemmungen geführt haben, während das Beben viele Hügel im ganzen Land einem ernsthaften Erdrutschrisiko ausgesetzt hat", hieß es von der europäischen Raumfahrtagentur ESA. Der Sender NTV hatte in der vergangenen Woche berichtet, dass Gebäude in der türkischen Küstenstadt wegen überfluteter Straßen evakuiert werden mussten.

Am frühen Morgen des 6. Februar hatte das erste Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, Stunden später folgte ein zweites Beben der Stärke 7,6. Seitdem gab es mehr als 2400 Nachbeben. In der Türkei sind zehn Provinzen betroffen – dort gilt inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand. Mehr als Hunderttausend Freiwillige reisten in die Erdbebenregion, um zu helfen. Einige von ihnen kehrten mittlerweile in ihre Heimat zurück. (TT.com, APA/dpa)

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