Empörte Reaktionen auf Kochers Teilzeit-Vorstoß: „Unsozial" und „frauenfeindlich"
„Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen“, meint Arbeitsminister Kocher (ÖVP). SPÖ, FPÖ, Gewerkschaften und AK, aber auch der grüne Koalitionspartner, reagieren empört auf den Vorstoß.
Wien – Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) will Vollzeit-Jobs stärken und Einschränkungen bei den Sozialleistungen bei Teilzeit-Arbeit. Dies hat umgehend zu massiver Kritik von Opposition und Gewerkschaft geführt. Auslöser der Aufregung war die Aussage von Kocher im Kurier, wonach Menschen, die freiwillig weniger arbeiten, auch weniger aus dem Sozialtopf erhalten sollen. Außerdem forderte der Minister ein Umdenken der Sozialpartner bei den im Regelfall höheren Einkommen im Alter. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) stellte am Abend klar, dass Menschen mit Betreuungspflichten nicht betroffen sein dürften.
Zu Mittag hatte Kocher seine Aussagen bereits präzisiert. Es gehe nicht um Kürzungen von Sozialleistungen, sondern darum, bei neuen Maßnahmen, Änderungen und Reformen den Teilzeit-Aspekt stärker zu berücksichtigen.
"Wir brauchen weitere Schritte, um Vollzeitbeschäftigung attraktiver zu machen, wie eine geringere Abgabenbelastung und noch treffsicheren Einsatz von Sozialleistungen. In Österreich wird wenig unterschieden bei Sozial- und Familienleistungen, ob jemand 20 oder 38 Stunden arbeitet. Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen", so der Minister zuvor zum Kurier.
Weiters hielt der Arbeitsminister fest: "Gerade vor dem Hintergrund des oft geäußerten Vorwurfs der Gießkanne ist ein treffsicherer Einsatz von Steuer- und Beitragsmitteln zentral. Selbstverständlich geht es bei der Erhöhung der Erwerbsbeteiligung auch um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch qualitative Kinderbetreuung und attraktive Arbeitsbedingungen", so Kocher.
Nehammer meinte zum Vorschlag seines Parteikollegen vor Journalisten, dass Menschen, die Betreuungspflichten haben, "damit nicht gemeint" seien, dies sei "tabu". Man müsse aber Anreize für längeres Arbeiten setzen, Leistung müsse sich lohnen, bekräftigte Nehammer. So solle es sich etwa auszahlen, Überstunden zu machen. Er unterstütze Kocher "voll" dabei, das Thema nun rasch anzugehen.
Es hagelt Kritik
Für Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) stehen Kürzungen bestehender Sozialleistungen nicht zur Diskussion, wie der Minister in einem Statement festhielt. "Mit Sozialleistungen unterstützen wir als Gesellschaft jene Menschen, die unsere Hilfe wirklich brauchen. Sie treffsicher zu gestalten, ist eine wichtige Aufgabe der Politik. Maßgeblich ist der Bedarf an Unterstützung – nicht das Ausmaß der Beschäftigung", so Rauch. Dem aktuellen Arbeitskräftemangel müsse man begegnen, indem die Erwerbschancen für Frauen verbessert und Anreize gesetzt werden, damit Menschen später in Pension gehen. Langfristig müssten attraktive Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass Menschen aus dem Ausland nach Österreich kommen und hier arbeiten möchten."
Die Grünen hatten bereits am Vormittag festgehalten: "Eine Diskussion um eine Kürzung von Sozial- und Familienleistungen bei Teilzeit ist nicht nur unangebracht, sondern widerspricht auch der bisherigen Regierungslinie." Frauensprecherin Meri Disoski betonte: "Eine derartige Kürzung würde nicht nur soziale Härten verursachen, sondern ginge insbesondere auf Kosten von Frauen und armen Familien. Wir wollen Armut halbieren, aber mit Sicherheit keine Sozial- und Familienleistungen."
SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch reagierte auf die Kocher-Aussage "in aller Schärfe": "Gegen den Arbeitskräftemangel fällt der Regierung nichts ein, außer die Situation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer per Gesetz zu verschlechtern. Dabei müsste es doch genau umgekehrt sein", polterte er. Insgesamt sei Kochers Vorstoß ein unsozialer Angriff auf die Familien und "das Unsinnigste, was er gehört hat, seit die FPÖ-Ministerin Beate Hartinger-Klein behauptet hatte, man könne von 150 Euro im Monat gut leben".
Für FPÖ- Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch zeigt die Aussage von Kocher "wie dieser familienfeindliche und neoliberale ÖVP-Minister wirklich tickt". "Denn lapidar zu sagen, dass junge Mütter informiert werden sollten, dass sie bei längerer Erziehungszeit einen massiven Verlust bei ihrer zukünftigen Pension in Kauf nehmen müssen, zeugt schon von sozialer Armut", so Belakowitsch.
NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker wiederum meinte: "Der Minister hat das Problem erkannt - aber die Lösung ist falsch, weil er das Pferd von hinten aufzäumt. Die Teilzeitfalle wird nicht bekämpft, indem man Bedürftigen die Sozialleistungen streicht."
ÖGB und AK mit scharfer Kritik: "Frauenfeindlich"
Barbara Teiber, Vorsitzende der Gewerkschaft GPA, wurde ebenfalls deutlich: "Minister Kocher soll seine frauenfeindlichen Vorschläge zur Bestrafung von Teilzeitarbeit sofort zurückziehen." Sie rechnet vor: "80 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. Viele Teilzeit arbeitende Frauen haben keine andere Wahl, weil die öffentliche Hand nicht ausreichend ganztägige Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung stellt."
Der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) merkte ebenfalls an, dass Kocher übersehe, dass Frauen oftmals nicht freiwillig in Teilzeit arbeiten, "sondern weil z.B. Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen". Statt zu bestrafen, müsse man Voraussetzungen schaffen, damit Frauen mehr Vollzeit arbeiten, schreibt der ÖGB auf Twitter.
Wenig Verständnis zeigte auch AK-Präsidentin Renate Anderl: Acht von zehn Teilzeitbeschäftigten seien Frauen, es stelle sich deshalb die Frage, von welchen Sozialleistungen Kocher hier genau spreche. "Will der Minister die Höhe der Familienbeihilfe vom Arbeitszeitausmaß der Eltern abhängig machen oder was ist hier geplant? Diese Leistungen gebühren ja unabhängig vom Einkommen", betonte sie.
Die Arbeiterkammer reagierte auch auf Twitter und schrieb, dass Kocher "rechtzeitig vor dem #EqualPayDay und punktgenau am #Valentinstag" seine Teilzeit-Vision ausrichte. "Vielleicht sollten zuerst diese strukturellen Probleme gelöst werden, bevor Frauen finanziell bestraft werden", zeigt sich die AK sichtlich erzürnt und listet nochmal auf, warum Frauen weniger in Vollzeitpositionen arbeiten.
"Teilzeitarbeitenden Eltern Sozial- und Familienleistungen zu kürzen, ist zynisch und orientiert sich ausschließlich an den Bedürfnissen der Wirtschaft", kritisierte der Präsident des Katholischen Familienverbandes Österreich (KFÖ), Alfred Trendl, am Dienstag die entsprechenden Überlegungen von Arbeits- und Wirtschaftsminister Kocher erhoben. 43 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten lebten mit Kindern unter 14 Jahren im Haushalt. "Genau diesen Eltern Sozialleistungen zu kürzen, wäre zutiefst ungerecht", betonte er in einer Aussendung.
Unterstützung für Kocher aus der Wirtschaft
Der Handelsverband rechnete vor, dass im Einzelhandel 14.133 weitere Stellen besetzt werden könnten. Weiters meinte die Interessenvereinigung in einer Aussendung: "Die in Teilzeit arbeitenden Menschen tragen naturgemäß viel weniger zum heimischen Sozialsystem bei, haben jedoch gleichzeitig vollen Anspruch auf die verschiedenen Sozial- und Familienleistungen."
Auch der Wirtschaftsbund unterstützte heute Kocher, dieser habe "den Nagel auf den Kopf getroffen". "Wenn wir langfristig Menschen in Vollerwerb bringen wollen, muss der Staat bei Sozialleistungen für Teilzeitarbeitskräfte unterscheiden", so der Wirtschaftsbund. Aber selbstverständlich solle eine alleinerziehende Mutter, die aufgrund ihrer Betreuungspflichten nur in Teilzeit arbeiten könne, unterstützt werden.
WIFO hegt Zweifel
Das Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO sieht zwar ein großes Potenzial darin, Teilzeitbeschäftigte auf Vollzeit umzustellen, denn der Wunsch bei den Beschäftigten sei da, aber: Es müssten auch die Betriebe diese Bereitschaft nutzen - und die Vorschläge von Kocher zu einer Einschränkung der Sozialleistungen seien zu unkonkret, um hier einen Beitrag zu mehr Vollzeitarbeit zu erkennen.
Zum einen gebe es die Universalleistungen wie die Familienbeihilfe oder die Krankenversicherung. Beides seien sogenannte "horizontale Leistungen", bei denen Kinderlose für Familien mit Kindern einzahlen bzw. Gesunde für Kranke. Dies sei unabhängig vom Erwerbsstatus, so WIFO-Expertin Christine Mayrhuber. Ebenfalls kein Ansatzpunkt zur Steigerung seien einkommensabhängige Abgaben, wie für die Arbeitslosenversicherung oder die Pensionen. Denn je weniger der Bürger verdiene, desto weniger zahle er ohnehin dafür ein.
Kocher warnt vor frühem Pensionsantritt
Kocher warnte heute auch davor, die langfristigen Folgen von Teilzeitjobs zu negieren. "Wer mit 68 Jahren in Pension geht, der erhält deutlich mehr Pension im Monat als bei Pensionsantritt mit 62 Jahren. Aus wirtschaftlicher Betrachtung zahlt es sich jedenfalls aus, länger zu arbeiten", gibt der Arbeitsminister zu bedenken.
Die Unternehmen würden bereits auf die demografischen Veränderungen reagieren und Mitarbeiter bitten, länger im Berufsleben zu bleiben. "Es wird aber auch bei den Sozialpartnern ein Umdenken stattfinden müssen, weil ältere Arbeitnehmer am Ende ihrer Erwerbstätigkeit kollektivvertraglich oft mehr verdienen und damit teurer sind", so der Appell des Ministers.
Zu der geringen Beschäftigungsquote von geflüchteten Menschen aus der Ukraine hielt Kocher fest: "Einige Vertriebene wollen bald in die Ukraine zurückkehren und sehen keine Notwendigkeit, in Österreich zu arbeiten. Andere arbeiten auch im Homeoffice – für ukrainische Firmen. Wie es mittel- und langfristig weitergeht, müssen wir uns natürlich anschauen." (TT.com, APA)