Urgestein der Avantgarde-Musik: Komponist Friedrich Cerha ist tot
Der vielfach ausgezeichnete österreichische Komponist starb im Alter von 96 Jahren. Er wurde vor allem bekannt als Vollender von Alban Bergs "Lulu" und Komponist der Oper "Baal".
Wien – Der große österreichische Komponist Friedrich Cerha ist am Dienstag in den frühen Morgenstunden in einem Wiener Spital gestorben. Das gab seine Familie bekannt. Cerha, der die europäische Avantgardemusik der Nachkriegszeit wesentlich mitgeprägt hat, hätte am Freitag (17. Februar) seinen 97. Geburtstag gefeiert.
Zu den bekanntesten Werken seines reichen Schaffens zählen die Fertigstellung von Alban Bergs Opernfragment "Lulu", das von Cerha um den dritten Akt ergänzt wurde, die Oper "Baal" und seine großen musikdramatischen Werke "Spiegel" und "Netzwerk". Zahlreich waren auch Cerhas Auszeichnungen, zu denen der Große Österreichische Staatspreis (1986) und der Ernst-von-Siemens-Musikpreis (2012) zählen.
Nach Jahrzehnten des produktiven Schaffens stellte Friedrich Cerha so etwas wie das Urgestein im Gebirge der österreichischen Avantgardemusik dar. Auch wenn Cerha als Dirigent, Interpret und Wissenschafter tätig war, wird von ihm vermutlich sein umfangreiches musikalisches Œuvre in Erinnerung bleiben, das sich nach wie vor ungebrochener Beliebtheit erfreut.
ORF ändert Programm
Anlässlich des Todes des großen Komponisten ändert der ORF sein Programm.
- ORF III gestaltet heute eine "Kultur Heute"-Schwerpunktausgabe. Zu Gast bei Ani Gülgün-Mayr ist Kulturjournalist Heinz Sichrovsky.
- Im heutigen Ö1-"Kulturjournal" (17.09 Uhr) gibt es ein Live-Gespräch mit Cerha-Kenner Rainer Elstner.
- Ab 23.03 Uhr wiederholt der Radiosender die "Lange Nacht des Friedrich Cerha" aus dem Jahr 2021.
- Am Donnerstag widmet sich "Zeit-Ton" (23.03 Uhr) "Friedrich Cerha als Dirigent und Geiger".
- Am Freitag stehen ab 19.30 Uhr "Erinnerungen an Friedrich Cerha" auf dem Programm.
- Ab 23.03 Uhr ist in "Zeit-Ton" der Bariton Wolfgang Holzmair mit Liedern Cerhas zu hören. Am
- Sonntag (19. Februar, 14.05 Uhr) werden die "Menschenbilder" aus dem Jahr 2016 wiederholt.
- ORF 2 zeigt am Sonntag um 10.15 Uhr das zu seinem 80. Geburtstag entstandene Filmporträt "Friedrich Cerha - So möchte ich auch fliegen können" von Robert Neumüller.
- ORF III zeigt am Sonntag um 9.50 Uhr ein Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien aus dem Jahr 2020.
- Gefolgt von einer Ausgabe der Gesprächsreihe "Kulturwerk" (10.45 Uhr) aus 2012 mit Friedrich Cerha im Interview mit Barbara Rett.
- Der "kulturMontag" bringt am 20. Februar (22.30 Uhr, ORF 2) einen Nachruf.
Im Krieg auf Tiroler Almütte geflüchtet
Geboren wurde Cerha am 17. Februar 1926 in Wien. Der musikalisch begabte Bub begann bereits im Alter von sechs Jahren, Geige zu spielen. Die ersten Kompositionen folgten nur zwei Jahre später, und auf eigene Initiative erhielt er Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt. 1943, noch vor Abschluss des Gymnasiums, wurde Cerha zur Wehrmacht eingezogen. Der erklärte Gegner des NS-Regimes desertierte allerdings und flüchtete auf eine Tiroler Almhütte.
Nach dem Krieg studierte er an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst Komposition bei Alfred Uhl sowie Violine bei Vasa Prihoda und Musikerziehung. Der promovierte Germanist pflegte auch Kontakte zu dem von avantgardistischen Malern und Literaten dominierten "Art Club". Ab 1959 lehrte Cerha an der Wiener Musikhochschule, von 1976 bis 1988 auch als Professor für Komposition, Notation und Interpretation neuer Musik.
1958 entstand das von Cerha mitbegründete Ensemble "die reihe", das als Kammerensemble für Neue Musik mit exemplarischen Aufführungen gegen die in Österreich herrschende Ödnis im Bezug auf die Musik des 20. Jahrhunderts anspielte und damit einem großen Publikum zeitgenössische Kompositionen nahebrachte. Nicht zuletzt wurde in dieser Zeit Cerhas Affinität zur zweiten Wiener Schule um Berg, Webern und Schönberg geschärft. Eine Folge davon war die Fertigstellung von Alban Bergs Opernfragment "Lulu", das von Cerha um den dritten Akt ergänzt und 1979 von Pierre Boulez in Paris uraufgeführt wurde.
"Baal" bei Salzburger Festspielen uraufgeführt
Bis zur ersten wirklich eigenen Oper "Baal" sollten noch Jahre vergehen. Das Werk nach einem Drama von Bertolt Brecht brachte endgültig den internationalen Durchbruch für Cerha und wurde 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Daneben gehören vor allem die (semi-)musikdramatischen Werke "Spiegel" und "Netzwerk" sowie die Literaturoper "Die Rattenfänger" nach Carl Zuckmayer zu seinen bekanntesten Kompositionen. Cerha hat mit Vorliebe Werke für große Orchesterbesetzung komponiert, die stilistisch weiterhin auf dem Boden der zweiten Wiener Schule wurzeln.
Schon einige Jahre vor seinem Tod stand der Komponist selbst nicht mehr am Pult, von vereinzelten Auftritten wie 2007 im Rahmen der Wiener Festwochen mit dem Klangforum oder anlässlich des Festkonzertes zu 50 Jahre "die reihe" abgesehen. Das Dirigieren hatte er da bereits zugunsten seines kompositorischen Schaffens zurückgestellt. Und die Ergebnisse sind umfangreich: 2002 wurde die in Zusammenarbeit mit Peter Turrini entstandene Oper "Der Riese vom Steinfeld" an der Wiener Staatsoper uraufgeführt, 2004 folgte mit Cerhas Requiem sein "Opus summum". Beim steirischen herbst gab es 2007 die Uraufführung des Konzerts für Bariton und Orchester, "Aderngeflecht", dessen Text auf Gedichten von Emil Breisach basiert, im selben Jahr erklang "Les Adieux" erstmals bei der Biennale in Venedig. 2010 kam "Like a Tragicomedy" in Manchester zur Aufführung und 2013 stand mit "Onkel Präsident" die Uraufführung einer Komischen Oper im Münchner Prinzregententheater auf dem Spielplan. Im gleichen Jahr erklang bei den Salzburger Festspielen erstmals sein "Etoile für 6 Schlagzeuger", 2016 schließlich "Eine blassblaue Vision".
Zahlreiche Auszeichnungen
Zahlreich waren auch Cerhas Auszeichnungen, zu denen der Große Österreichische Staatspreis (1986), der 2006 bei der Musik-Biennale in Venedig verliehene Goldenen Löwe für das Lebenswerk und der Ernst-von-Siemens-Musikpreis (2012) zählen. Sämtliche originale Musikhandschriften des Komponisten befinden sich im Bestand des Archivs der Zeitgenossen in Krems und stehen dort der weltweiten Musikforschung zur Verfügung.
Trauer in der Kulturszene
Cerhas Tod erzeugte tiefe Betroffenheit in der Kulturszene. "Ausgetretenen Pfaden zu folgen, war Cerhas Sache nicht", ließ Staatsoperndirektor Bogdan Roščić wissen. "Das Ausprobieren und Austesten neuer Ideen machen sein Œuvre so lebendig und bezwingend." Musikverein-Intendant Stephan Pauly trauerte um das Ehrenmitglied des Hauses, das "das musikalische Geschehen im Musikverein wie kein anderer österreichischer Komponist unserer Zeit geprägt hat" und mit seiner Frau Gertraud "auch einer unserer treuesten Konzertbesucher war". Auch die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) trauerte um ihr Ehrenmitglied und ehemaligen Professor: "Er war uns stets ein Vorbild als Künstler, als Lehrender und vor allem als Mensch mit einer Haltung, die zum Wohle unserer Demokratie unverhandelbar ist und sein muss", so Rektorin Ulrike Sych. (APA)