Mehr als 42.000 Erdbeben-Tote: Suche nach Vermissten geht weiter
1,6 Millionen Menschen sind derzeit in Notunterkünften untergebracht, 600.000 Menschen wurden aus der Region evakuiert: Zehn Tage nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien geht die Suche nach Verschütteten unvermindert weiter.
Gaziantep/Idlib – Zehn Tage nach den heftigen Erdbeben in der Türkei und in Syrien bergen Einsatzkräfte noch immer viele Leichen aus den Trümmern. Mehr als 42.000 Tote wurden bisher in beiden Ländern gezählt. Der türkische Katastrophendienst Afad berichtete am Donnerstag, 36.187 Menschen seien durch die Erdstöße getötet worden. Aus Syrien meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuletzt 5900 Tote. Afad zufolge gab es bisher mehr als 4300 Nachbeben.
Die NATO sagte dem Mitgliedsland Türkei indes weitere Unterstützung zu. Sie errichte temporäre Unterkünfte für Tausende von Vertriebenen. Man wolle zudem vorhandene Lufttransportkapazitäten nutzen, um "Zehntausende Zelte" in den kommenden Tagen und Wochen in das Land schicken, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Ankara. Er sprach der Türkei sein Beileid aus: "Das ist die tödlichste Naturkatastrophe auf Bündnisgebiet seit der Gründung der NATO."
Allein in der Türkei wurden laut Regierung 224.923 Wohnungen in der Erdbebenzone zerstört, stark beschädigt oder seien abrissreif. Laut dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind derzeit 1,6 Millionen Menschen in Notunterkünften untergebracht und 600.000 Menschen aus der Region evakuiert worden. Vielerorts fehlen temporäre Unterkünfte. In der Stadt Kirikhan und andernorts etwa bauen sich Menschen Behelfszelte und Öfen aus Materialien, die sie in den Trümmern finden. Die türkische Regierung erhöhte zudem die Zahl der von der Erdbebenkatastrophe betroffenen Provinzen von zehn auf elf. Auch die osttürkische Provinz Elazig gelte auf Anweisung des Präsidenten nun offiziell als Katastrophengebiet.
Suchanzeigen in sozialen Medien
Noch immer gehen spektakuläre Berichte über späte Rettungen von Verschütteten um die Welt. In der Stadt Antakya befreiten Einsatzkräfte der Feuerwehr aus Istanbul eigenen Angaben zufolge einen 13-jährigen Verschütteten nach 228 Stunden. Auf einem Video ist zu sehen, wie Mustafa auf einer Trage aus den Trümmern gebracht wird. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Lichtblicke in der Katastrophe
Zehn Tage nach dem Beben: 17-Jährige nach 248 Stunden aus Trümmern gerettet
In den sozialen Medien teilen inzwischen viele Menschen Suchanzeigen in der Hoffnung, ihre Angehörigen in Krankenhäusern wiederzufinden. Mehr als 13.000 Verletzte werden noch in Krankenhäusern behandelt, sind aber teilweise nicht identifizierbar, wie ein Krankenhausmitarbeiter in Adana sagte. Vielerorts wurde auch die Infrastruktur zur Krankenversorgung stark beschädigt.
US-Außenminister Antony Blinken will auf seiner Europa-Reise am 19. Februar die Türkei besuchen, um die Hilfe in Augenschein zu nehmen. Danach wird er in Ankara seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu treffen, wie das US-Außenministerium mitteilte. Die USA haben für die Erdbebenhilfe in der Türkei und Syrien umgerechnet knapp 80 Millionen Euro zugesagt.
17-Jährige in türkischem Erdbebengebiet nach 248 Stunden gerettet
248 Stunden nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet haben türkische Rettungskräfte ein 17-jähriges Mädchen aus den Trümmern gerettet. Aleyna Ölmez, deren Nachname auf Türkisch "Die, die nicht sterben wird" bedeutet, wurde am Donnerstag in der stark zerstörten Stadt Kahramanmaras lebend geborgen, wie Einsatzkräfte sagten. "Sie schien wohlauf zu sein. Sie öffnete und schloss die Augen", sagte der an der Rettungsaktion beteiligt Bergmann Ali Akdogan.
"Wir arbeiten jetzt seit einer Woche hier in diesem Gebäude", berichtete Akdogan. "Wir freuen uns immer, wenn wir etwas Lebendiges finden – sogar eine Katze." Der Onkel des Mädchens umarmte die Retter einen nach dem anderen und sagte unter Tränen: "Wir werden dich nie vergessen." Kurz nach der Rettung des Mädchens schickten türkische Soldaten Journalisten und Anrainer weg, weil auch Leichen aus dem Trümmerhaufen geborgen wurden.
In Syrien trafen am Donnerstag weitere Hilfslieferungen ein, darunter aus Saudi-Arabien, dem Irak und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Unterstützung kam auch von unerwarteter Seite: Kinder aus der syrischen Stadt Rakka spendeten ihr Taschengeld für ihre Altersgenossen im Erdbebengebiet. Die Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte veröffentlichten ein Video, das zeigte, wie die jungen Helferinnen und Helfer auch Schilder mit Grußworten in die Kamera hielten. "Was dich getroffen hat, hat auch uns getroffen", ist darauf etwa zu lesen.
Hilfe kann Bedarf nicht decken
Die derzeit geleistete Hilfe kann den enormen Bedarf nach Einschätzung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen nicht decken. Die Erdbeben hätten in Syrien mehr als 1700 Gebäude komplett sowie mehr als 5700 teilweise zerstört. Die Organisation rechnet auch mit einem deutlich erhöhten Bedarf an psychosozialer Beratung. Die Suizidrate sei bereits "in den vergangenen Jahren aufgrund der prekären Lebensbedingungen und der Perspektivlosigkeit gestiegen".
Arabische Medien berichteten unterdessen, dass immer mehr Syrer die Türkei verlassen. Fast 1800 Menschen seien in ihre Heimat zurückgekehrt. Insgesamt waren in den vergangenen Jahren rund 3,6 Millionen Menschen vor Bomben und Gewalt ins Nachbarland geflüchtet. Nach den Beben wollen aber viele wieder bei ihren Familien sein, obwohl die Kriegsgefahr längst noch nicht gebannt ist.
Am Montag vor gut einer Woche hatte ein erstes Beben der Stärke 7,7 um 2.17 Uhr (MEZ) die Südosttürkei erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Die Katastrophe wird die Türkei einer Prognose zufolge bis zu ein Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung kosten.
"Das Erdbeben hat in hohem Maße landwirtschaftliche Gebiete und Regionen mit leichter Produktion betroffen, so dass die Auswirkungen auf andere Sektoren begrenzt sind", sagte die Chefvolkswirtin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE), Beata Javorcik. Der Wiederaufbau könnte aber im Jahresverlauf die negativen Auswirkungen auf Infrastruktur und Lieferketten ausgleichen. Auf Naturkatastrophen spezialisierte Experten veranschlagen die wirtschaftlichen Schäden in der Türkei und in Syrien auf mehr als 20 Milliarden Dollar (18,69 Mrd. Euro). Nur ein Bruchteil davon – gut eine Milliarde Dollar – sei versichert, hieß es in einer ersten Schätzung der US-Firma Verisk Analytics. (APA/dpa/Reuters)
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