„Krieg und Frieden“: Ein Problemstück bleibt problematisch
Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper.
München – Eigentlich sollten sich Inszenierungen ohne Studium des Beipackzettels (anderes Wort: Programmheft) vermitteln, doch in diesem Fall empfiehlt sich der Blick ins gut gemachte Büchlein der Staatsoper. Da erfährt man nicht nur Wissenswertes über die von Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski und Regisseur Dmitri Tcherniakov speziell für München geschaffene Fassung des Stücks, es erklärt sich auch der Raum, in dem wir vier Stunden lang einer Gesellschaft zuschauen, welche mal in oder unter Zelten haust, mal ganz munter feiert, dann wieder wütend mit- und gegeneinander kämpft. Die aufwändige, mit vielen Details ausgestattete Säulenhalle kennt offenbar in Moskau so ziemlich jeder, da fanden Prozesse gegen die Komponisten Dmitri Schostakowitsch und eben Sergej Prokofjew statt, es wurden aber auch Konzerte gegeben (Vladimir Jurowskis Vater dirigierte dort). Zudem gab es Schachmeisterschaften, was szenisch durch das gelegentliche Präsentieren von Schachbrettern aufgenommen wird, doch die Figuren auf dem Feld überleben nicht lange ...
In München sind etliche patriotische Passagen – die Prokofjew und seine Frau teilweise auf Druck des Regimes eingefügt hatten – gestrichen, dennoch liest man in den Übertiteln manch Nationalistisches und hört dazu auch immer wieder triumphalistische Töne aus dem Graben. Obwohl Vladimir Jurowski gerade im ersten Teil versucht, die Musik zurückhaltend, gemäßigt, manchmal sehr gedehnt in Szene zu setzen. Inhaltlich bewegt man sich da eine Stunde und fünfundvierzig Minuten lang allerdings ohnehin eher in einem ausführlichen Liebesdrama. Wer Tolstois „Krieg und Frieden“ gelesen hat oder eine Verfilmung sah, der weiß, dass Natasha von mehreren Männern umschwärmt wird. Ihr Ersehnter, Andrej, findet indes keine Gnade bei Natashas standesdünkeligem Vater. Eine Entführung später und nach einem Selbstmordversuch Natashas geht es in München in die Pause – danach herrscht Krieg (im Stück ist die Folie Napoleons Schlacht gegen Russland). Laut Programmheft sind in der Moskauer Säulenhalle Geflüchtete aus unserer Gegenwart, die sich die Zeit mit Rollenspielen vertreiben und „Krieg und Frieden“ (nach-)spielen. Damit entgeht Tcherniakov manchen Problemen, die bei einer „Eins zu eins“-Interpretation auftreten würden, etliches karikiert er prägnant, anderes wird ergreifend intensiv gestaltet. Doch es bleibt ein ungutes, irgendwie unrundes Gefühl. Weil es keinen Kontext, keinen imaginierten, inszenierten oder auch intellektuellen Außenraum gibt. Es wird im Laufe des langen Abends immer weniger plausibel, wer da auf der Bühne was tut und warum, was noch Ironie, was bereits Ernst ist. Und wohin alles letztlich führt, führen soll.
Den recht nationalistisch tönenden Schlusschor ersetzt Jurowski durch Blechbläser auf der Bühne. Mit Verlaub: Lautes, grelles Blech frontal zum Publikum, das klingt auch nicht gerade unmartialisch! Überhaupt findet Jurowski zu keiner richtigen Linie, aber das scheint Konzept zu sein: nicht überdrehen, nicht zu viel Wumms in diesen Zeiten, im Zweifel eher zurücknehmen.
Eine reine Freude ist die Sängerbesetzung, mit Andrei Zhilikhovsky und Olga Kulchynska als unglückliches Nicht-Paar Andrej und Natasha, Sergei Leiferkus als Fürst Bolkonski, Bekhzod Davronov als sinistrer Kuragin – die Liste ließe sich sehr lange fortsetzen und auch auf die Chöre ausdehnen (Einstudierung David Cavelius). Eine wohl eher unfreiwillige Pointe am Rande: Die Premiere fand am 5. März statt, dem Todestag von Prokofjew und Stalin!
Die Aufführung kann man gratis auf der Seite der Bayerischen Staatsoper sowie bei arte streamen. So bilde sich jeder sein eigenes Urteil, der Rezensent bleibt diesmal ziemlich ratlos zurück.