📺 Filmkritik

Medea vor Gericht: Mörderische Verhältnisse in „Saint Omer“

Bemerkenswert frustrierend: In Alice Diops großartigem Gerichtsfilm „Saint Omer“ klären sich die mörderischen Verhältnisse um eine Tat, die unerklärlich bleibt.

Innsbruck – Laurence Coly (Guslagie Malanda) muss sich wegen Mordes vor Gericht verantworten. Sie hat ihre fünfzehn Monate alte Tochter im Meer ertränkt. Sie ist geständig. Warum sie das getan habe, will die Richterin wissen. Die Frau, sie stammt aus dem Senegal, hat in Frankreich studiert und lebt mit einem deutlich älteren, gutsituierten Künstler zusammen, gibt an, ihre Tat selbst nicht begreifen zu können. Auch sie verspricht sich vom Prozess Aufklärung. Abschließende Antworten, so viel vorneweg, wird „Saint Omer“, der erste Spielfilm der vielfach ausgezeichneten Dokumentaristin Alice Diop, nicht liefern. Die Umstände der Tat sind viel zu komplex, um sie mit einfachen Ansätzen erklären zu können.

🎬 Trailer | „Saint Omer“

„Saint Omer“ geht auf einen verbürgten Fall zurück, der sich im gleichnamigen Ort im Nordosten Frankreichs zugetragen hat, und 2016 als „Affaire Fabienne Kabou“ große mediale Aufmerksamkeit erfahren hat. Diop hat das Verfahren gegen Kabou, die zu achtzehn Jahren Haft verurteilt wurde, vor Ort verfolgt – und stellt das, was sich im Gerichtssaal zugetragen hat, nun detailliert nach.

Diops, wenn man so will, Alter Ego im Film ist die Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame), die in der tödlichen Kindsweglegung zunächst einen Romanstoff erkennt: Medea am Meer. Sie ist erschüttert von dem, was sie im Gericht hört, erschüttert und ratlos. Auch Rama stammt aus dem Senegal. Ein bisschen, befürchtet sie, erkennt sie sich in der Angeklagten wieder. Auch Ramas Versuche, das Geschehene zu psychologisieren, es schlüssig auf traumatische Erfahrungen zurückzuführen, versanden. Auch diese Ursachenforschung, das darf man sagen, weil es in „Saint Omer“ auch darum nicht geht, scheitert.

Um was also geht es in diesem in seiner kühlen, strengen Theatralität beeindruckenden Film also? Natürlich spielt der Rassismus eine Rolle. Nicht nur vordergründig, wenn etwa Versuche, Laurence Coly zu verteidigen, auch daran scheitern, weil sie nicht ins vorurteilsbehaftete Bild einer unterprivilegierten Migrantin passen will – und damit vorgeführt wird, dass sich Dünkel und Verständnis eben nicht ausschließen. Und um strukturelle Frauenfeindlichkeit geht es auch: Als „Phantomfrau“ wird Laurence während des Prozesses beschrieben, als eine Frau, die nicht übersehen, sondern schlicht nicht gesehen wird. Diskriminierung und Isolation in einer paternalistischen und weißen Mehrheitsgesellschaft also werden mit der Mörderin Medea vor Gericht verhandelt. Und während die zentrale Tat in „Saint Omer“ unfassbar und unerklärlich bleibt, klären sich die mörderischen Verhältnisse, die sie umgeben. Auf jeweils ganz eigene Art ist beides frustrierend. Was den Film nur noch bemerkenswerter macht. Beim Filmfestival von Venedig wurde „Saint Omer“ im vergangenen Herbst mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, in Frankreich folgte vor wenigen Wochen der César als bester Debütfilm des Jahres.

Saint Omer. Ab 16 Jahren. Derzeit in den Kinos. In Innsbruck: Leo.