Ein Lokalaugenschein

Das zweite Bachmut: Russland will auch Frontstadt Awdijiwka einkesseln

Szenen aus einer kriegszerstörten Stadt: Ein alter Mann sammelt einen Sack voll Brennholz aus den Trümmern, lädt ihn auf seinen krummen Rücken, stützt sich auf alte Holzkrücken und humpelt davon.
© ARIS MESSINIS

Seit 2014 versuchen russische Truppen den Ort einzunehmen. Heute ist Awdijiwka zusammen mit Bachmut Schauplatz der heftigsten Schlachten.

Awdijiwka – "Jeden Tag dasselbe mit diesen Bomben und Raketen", klagt Nadeschda. Die 70-Jährige ist eine der wenigen, die noch im ostukrainischen Awdijiwka ausharren. Die Stadt liegt wie Bachmut direkt an der Front. Doch in Awdijiwka herrscht schon viel länger Krieg: Seit 2014 versuchen russische Truppen sie einzunehmen.

Nadeschda ist mit ihrer Nachbarin unterwegs, schwer bepackt mit Taschen voller Lebensmittel. Auf dem Weg nach Hause kommen die beiden Frauen an einem 15-stöckigen Hochhaus vorbei, das am Vortag bei einem Angriff getroffen wurde. Die Fassade wurde weggesprengt. "Als ich das gesehen habe, war ich einfach nur fassungslos", sagte Nadeschda.

Genauso wie das 60 Kilometer nördlich gelegene Bachmut greift Russland auch Awdijiwka mit Artilleriegeschossen und zuletzt auch aus der Luft mit Kampfflugzeugen an. Von Awdijiwka sind es nur 13 Kilometer bis Donezk, der russisch besetzten Hauptstadt der gleichnamigen Region.

Rund 2300 Menschen harren aus

Vor der Invasion im Februar 2022 lebten 30.000 Menschen in Awdijiwka. Jetzt seien es nur noch 2300, von denen knapp 2.000 von Hilfslieferungen lebten, sagt Vitalyji Barabasch, der Leiter der lokalen Militärverwaltung. "In den letzten drei Wochen haben wir mit Hilfe der Polizei und Freiwilligen etwa 150 Menschen evakuiert. Wir hatten 47 Kinder in der Stadt, heute sind nur noch acht übrig", sagt Barabasch. Die Menschen hausen in Kellern, seit Monaten haben sie kein fließendes Wasser, kein Gas und keinen Strom mehr.

Vor einem von einer Rakete zerstörten Gebäude versucht ein alter Mann sich Brennholz zu schlagen. Er sägt Äste von einem Baum und schlägt mit einer Axt einen Türrahmen klein. Hilfe lehnt er ab und arbeitet unermüdlich weiter. Als er einen Sack voll hat, schwingt er ihn auf seinen krummen Rücken, stützt sich auf alte Holzkrücken und humpelt davon.

Die Raketen werden immer größer, genau wie die Schäden. Wahrscheinlich zerstören sie alles hier.
Ruslan Surnow, Leiter eines Hilfszentrums

"Die Situation wird immer schlimmer. Jetzt setzen die Russen X-59, X-101, X-555 und C-300 ein", zählt Barabasch die Typen der Geschosse mit größerer Reichweite auf. "Sie beschießen uns mit etwa zehn, zwölf Raketen pro Tag, wenn nicht sogar mit 14. Das war früher nie so."

"Die Raketen werden immer größer, genau wie die Schäden. Wahrscheinlich zerstören sie alles hier", sagt auch Ruslan Surnow, der ein Hilfszentrum leitet. "Früher hatten wir keine Angst, an die Grad-Raketen hatten wir uns schon gewöhnt. Aber jetzt gibt es Luftangriffe", sagt er.

Die Zerstörung ist in Awdijiwka allgegenwärtig.
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Zu Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 nahmen prorussische Separatisten Awdijiwka ein, doch dann eroberte die ukrainische Armee die Stadt zurück. Heute ist sie zusammen mit Bachmut Schauplatz der heftigsten Schlachten. Im vergangenen Juni schnitten die russischen Streitkräfte nördlich von Awdijiwka eine der beiden Hauptzufahrtsstraßen ab und bezogen Stellungen im Osten und Süden. In den vergangenen Monaten rückten sie weiter vor und nahmen umliegende Dörfer ein.

Dennoch sind die Einwohner zuversichtlich, dass Awdijiwka nicht so schnell eingekesselt wird. "Seit mehr als acht Jahren verläuft hier die Front", sagt Surnow. In dieser Zeit habe die ukrainische Armee eine "Befestigungslinie ganz aus Beton, mit Bunkern" aufgebaut. "Es ist eine echte Festung, besser geschützt als Bachmut." (Emmanuel Peuchot/AFP)

Vor allem alte Menschen harren aus.
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