Netanyahu in Nöten

Israel kommt nicht zur Ruhe: Justizreform verschoben, Proteste dauern an

Die Polizei geht in Tel Aviv mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor.
© APA/AFP/Cohen-Magen

Die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu schob unter Druck von Protesten einen Umbau der Justiz auf die lange Bank. Ein reiner Aufschub reicht den Demonstranten jedoch nicht – sie fordern einen vollständigen Rückzieher der Regierung und protestieren weiter.

Tel Aviv, Jerusalem – Trotz des angekündigten Stopps der Justizreform in Israel wollen Gegner der Pläne ihren Protest weiterführen. "Wir werden die Demonstrationen nicht einstellen, bis der Justizputsch vollständig gestoppt ist", teilten die Organisatoren des Widerstands auf der Straße am Montagabend mit. Die Ankündigung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu diene lediglich dazu, die Bevölkerung hinters Licht zu führen, "um den Protest zu schwächen und dann eine Diktatur zu errichten".

Wir werden die Demonstrationen nicht einstellen, bis der Justizputsch vollständig gestoppt ist.
Organisatoren der Proteste

Im Laufe des Dienstags seien mehrere Kundgebungen geplant. Netanyahu hatte am Abend nach massiven Protesten und mehreren Krisengesprächen angekündigt, die Umsetzung der umstrittenen Pläne für einige Wochen auszusetzen, um "Platz für Dialog zu schaffen" und "einen Bürgerkrieg zu vermeiden". Seit rund drei Monaten gehen regelmäßig Zehntausende, teils mehrere hunderttausend Menschen gegen das Vorhaben seiner rechts-religiösen Regierung zur Schwächung der unabhängigen Justiz auf die Straßen.

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Straße nach Jerusalem blockiert

Der Protest setzte sich bis in die Nacht zum Dienstag landesweit fort. In mehreren Städten kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. In der Küstenstadt Tel Aviv blockierten Demonstranten zeitweise eine wichtige Verbindungsstraße nach Jerusalem. Landesweit gab es bis zum Abend laut Medienberichten zwei Dutzend Festnahmen. Zum Teil setzte die Polizei Blendgranaten und Wasserwerfer ein, um gegen die Demonstranten vorzugehen.

Am Abend fanden erste Gespräche zwischen Netanyahu und der Opposition statt. Wie mehrere Medien berichteten, traf sich der Regierungschef zunächst mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Benny Gantz. Dieser habe demnach Netanyahu aufgefordert, seinen Nachfolger Yoav Galant in dem Amt zu belassen. Dies sei "wesentlich für die nationale Sicherheit" und könne zur Beruhigung der Lage beitragen. Netanyahu hatte Galant am Sonntag nach eigenen Angaben entlassen, nachdem der Verteidigungsminister öffentlich zu einem Stopp der Reform ausgerufen hatte. Medienberichten zufolge soll ihm aber bisher noch kein offizielles Entlassungsschreiben übermittelt worden sein.

Opposition will nach Aus für Gesetz in Gespräche gehen

In der Opposition herrschte Unstimmigkeit darüber, ob ein Dialog mit Netanyahus Regierung aufgenommen werden sollte. Oppositionsführer Jair Lapid zeigte sich grundsätzlich gesprächsbereit. "Wenn die Gesetzgebung wirklich und vollständig gestoppt wird, sind wir bereit, einen echten Dialog in der Residenz des Präsidenten zu beginnen", teilte Lapid mit. Gleichwohl ließ er Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Netanyahus Angebot durchblicken.

Die Vorsitzende der oppositionellen Arbeitspartei, Meirav Michaeli, sah wenig Grund zu einem Kompromiss im Sinne des Ministerpräsidenten. "Der Kampf und der Protest müssen fortgesetzt und intensiviert werden", betonte sie. Netanyahu wolle mit seinem Aussagen nur Zeit schinden, letztlich aber genau das umsetzen, wovor so viele Menschen im Land Angst hätten.

Nachdem am Montag wegen eines Generalstreiks aus Protest gegen die Reform weite Teile des Wirtschaftslebens stillstanden, wurde am Dienstag eine Rückkehr zum normalen Betrieb erwartet. So teilte die israelische Flughafenbehörde mit, dass es am Flughafen Ben Gurion wieder ganz normal Starts und Landungen geben werde. Die Arbeitergewerkschaft hatte sich am Montag an einem landesweiten Streik beteiligt, was zu etlichen Flugausfällen führte. Auch zahlreiche Arbeitnehmer weiterer Branchen hatten ihre Arbeit nach dem Aufruf des Dachverbands der Gewerkschaften niedergelegt. (TT.com, APA, dpa)

Das schreibt die Presse

La Vanguardia (Madrid):

"Netanyahu versucht, die Spannungen zu entschärfen und Zeit zu gewinnen, gibt die Reform aber nicht auf. (...) Israel ist eine Demokratie, aber ohne ein wirksames System der gegenseitigen Kontrolle der Staatsgewalten könnte es diese Eigenschaft verlieren. Das Land hat keine Verfassung und keine zweite Parlamentskammer, sodass die Judikative und der Oberste Gerichtshof die einzigen sind, die den Auswüchsen der politischen Macht Einhalt gebieten können. Die (rechtskonservative) Likud-Partei und ihre Partner wollen das Verfahren zur Auswahl der Richter kontrollieren, womit die Regierung kaum noch einer Kontrolle unterzogen sein würde.

Die extreme Polarisierung der israelischen Gesellschaft kann zu gewalttätigen Unruhen führen, die das Land in eine gefährliche Grenzsituation bringen würden, sollte die Justizreform noch verabschiedet werden. Israel befindet sich am Rande des Abgrunds."

Neue Zürcher Zeitung:

"Benjamin Netanyahu ist bekannt als gewiefter Stratege, der schon viele Krisen gemeistert hat. Doch im Streit um die Justizreform hat sich der israelische Ministerpräsident in eine Ecke manövriert, aus der es schließlich keinen einfachen Ausweg gab. Am Ende blieben ihm nur schlechte Optionen: Hielte er an dem umstrittenen Vorhaben zur Begrenzung der Befugnisse des Obersten Gerichts fest, liefe er Gefahr, dass das Land durch die Proteste der Gegner komplett gelähmt würde. Gäbe er hingegen ihren Forderungen nach einem Stopp der Reform nach, drohte seine Koalition zu platzen.

Dass Netanyahu nun eingelenkt und die Reform zumindest vorläufig auf Eis gelegt hat, ist richtig. Ein echter und ehrlicher Dialog mit den Gegnern ist überfällig. Es sind keineswegs nur säkulare Linke, die gegen die Reform demonstrieren, wie es das Regierungslager behauptet. Auch viele Religiöse und Rechte sind besorgt, dass die Regierung zu viel Macht erhielte, wenn sie mit einfacher Mehrheit in der Knesset jeden Beschluss des Obersten Gerichts überstimmen könnte. Doch die Reform ist nur verschoben, nicht aufgehoben. Gelöst ist der Konflikt damit nicht."

de Volkskrant (Amsterdam):

"Es bleibt die Frage, wie Netanyahu, ein sehr wendiger Politiker, aus dieser Situation herauskommt. Vor den Demonstranten zu kapitulieren, ist für ihn keine Option. Wenn die Reform scheitert, werden seine rechtsextremen Partner die Koalition aufkündigen, und es werden wahrscheinlich Neuwahlen folgen: die sechsten in vier Jahren. Die Chancen, dass er dann wieder Ministerpräsident wird, sind gering, auch weil keine andere Partei mehr mit Netanyahu regieren will.

Außerdem ist der Ministerpräsident selbst wegen Korruption angeklagt und hofft, dass er dank der Reform nicht ins Gefängnis muss. Viele bezweifeln, dass Netanyahu bereit ist, seine eigenen Interessen zum Wohle des Landes zu opfern. Und wenn die Regierung stürzt, so meinen Analysten besorgt, gerät ein stark gespaltenes Land, in dem Wahlen in den letzten Jahren nie zu einer klaren Mehrheit geführt haben, nur noch stärker ins Chaos. Und das alles zu einer Zeit, in der die Spannungen im besetzten Westjordanland, wo es fast täglich Tote gibt, stark angestiegen sind."

De Standaard (Brüssel):

"Dass sich letztlich ein Kompromiss über eine Verschiebung der Reform abzeichnete, ist wenig beruhigend. Denn die Ultranationalisten knüpfen ihre vorläufige Geduld an die Schaffung einer Nationalgarde, die direkt dem rechtsextremen Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir unterstellt wäre. In der Praxis würde dies auf die offizielle Schaffung einer nationalen Schlägertruppe hinauslaufen, die von Fanatikern vorangetrieben wird, die eine anti-palästinensische und religiöse Gewaltagenda verfolgen. Dieses Szenario wird nicht nur zu Gewalt gegen gemäßigte Israelis und Palästinenser führen, sondern auch so manchen High-Tech-Unternehmer aus dem Land treiben. Israel wird sich dann nicht nur in einer noch nie dagewesenen internationalen Isolation, sondern auch in einem wirtschaftlichen Abwärtsstrudel wiederfinden."

The Times (London):

"Netanyahu muss diese Verzögerung nutzen, um einen Kompromiss zu finden. Viele Israelis akzeptieren die Notwendigkeit einer gewissen Justizreform. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass in Israel über die angemessene Rolle der Gerichte in einer Demokratie diskutiert wird und darüber, wie ein Gleichgewicht zwischen Mehrheitsherrschaft und Minderheitenrechten hergestellt werden kann.

Durch die Ablehnung aller bisherigen Kompromissangebote haben Netanyahu und seine Koalitionspartner es jedoch nahezu unmöglich gemacht, einen Konsens zu erzielen. Die größte Gefahr besteht nun darin, neue Gesetze zu verabschieden, die vom Obersten Gerichtshof umgehend abgelehnt werden. Dies würde zu einer Verfassungskrise führen, die die Legitimität der Regierung in Frage stellen und Israel in ein noch größeres Chaos stürzen würde."

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