Neuer Roman

„Mary & Claire“ von Markus Orths: Der Kampf um Freiheit im Jahr ohne Sommer

So könnte die Geburt des modernen Horrors im Sommer 1816 ausgesehen haben: ein Szenenbild aus dem Film „Mary Shelley“ (2017).
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In seinem neuen Roman „Mary & Claire“ zeichnet Markus Orths das Leben von zwei Frauen nach, die den Konventionen ihrer Zeit selbstbewusst trotzten.

Innsbruck – 1816 ging als „Jahr ohne Sommer“ in die Weltgeschichte ein. Seit dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April herrschte „vulkanischer Winter“: Ein Ascheschleier legte sich über die Atmosphäre – über Mitteleuropa entluden sich verheerende Unwetter, Ernten fielen aus, Lebensmittelpreise stiegen, Krankheiten breiteten sich aus.

Auch literaturgeschichtlich schlug sich der Ausnahmezustand nieder. In einem mondänen Anwesen am Genfer See etwa wurde – so jedenfalls wird es erzählt – nichts Geringeres als der moderne Science-Fiction-Horror erfunden. Eine Gruppe britischer Heimatferner bespaßte sich mangels anderer Vergnügungsmöglichkeiten mit Schauergeschichten. Lord Byron, pansexueller Posterboy der englischen Romantik, sinniert über „Die Finsternis“, sein Leibarzt Polidori entwarf mit „Der Vampyr“ den Dracula-Urahn und Mary Shelley überstrahlte den Abend mit ihrer „Frankenstein“-Erzählung, in der der Mensch nicht ein Monster schuf, sondern auch das Monster in sich entfesselt.

Markus Orths.
© Hassiepen

Viel ist von und über diese Nacht erzählt worden. Timo Feldhaus setzte sie im Vorjahr ins Zentrum eins erzählenden Sachbuchs „Mary Shelleys Zimmer“. Kinoberserker Ken Russell inszenierte sie schon 1988 in „Gothic“ als irrlichternden Wachtraum. Haifaa Al Mansours Film „Mary Shelley“ hingegen orientierte sich 2017 eher an dem, was sich belegen lässt.

So hält es auch Markus Orths. Orths neuer Roman „Mary & Claire“ weist seine Quellen am Ende detailliert aus. Und – schon der Titel unterstreicht es – er rückt eine zweite Frau mit ins Zentrum der Geschichte, die damals dabei war, aber von den Chronisten irgendwann vergessen wurde: Mary Shelleys Stiefschwester Claire Clarimont. Auch sie schrieb, den verschollenen Roman „Der Idiot“ zum Beispiel. Vor allem aber lebte Claire – erfahrungshungrig, unangepasst und exaltiert. Ihrer Initiative, ihrem kaum zu bremsenden Begehren, ist das rauschende und berauschte Dichtertreffen am See zu verdanken. „Mary & Claire“ erzählt das, was sich davor und danach zugetragen hat. In knappen Kapiteln zeichnet Markus Orths eine Zeit nach, in der Frauen, die ihnen zugedachten Rollen kaum verlassen konnten. Hin- und mitreißend erzählt er von zweien, die mehr oder weniger glücklich versucht haben, dem Strom des Erlaubten zu trotzen – und von dem, das beim Versuchen geopfert wurde.

📚 Info

Roman Markus Orths: Mary & Claire. Hanser, 304 Seiten, 26,80 Euro.

Lesung: Markus Orths und Heinrich Steinfest („Der betrunkene Berg“) lesen heute, Dienstag, um 19.30 Uhr in der Innsbrucker Wagner‘schen.