Betroffener schildert Martyrium

Gerechtigkeit für Missbrauchsopfer von Maria Nowak-Vogl gefordert

Christian Herbst (60) war als Zwölfjähriger 85 Tage lang in der Kinderbeobachtungsstation "eingesperrt".

Vor 14 Jahren Jahren brach in Deutschland und Österreich der Skandal um den weit verbreiteten Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in öffentlichen, konfessionellen und privaten Heimen auf. Bis in die 1990er-Jahre wurden Zöglinge systematisch körperlich, sexuell und seelisch misshandelt. In Tirol steht dafür exemplarisch das Mädchenerziehungsheim St. Martin in Schwaz.

Innsbruck, Schwaz – Mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in den Heimen rückte auch die Vorgängereinrichtung der Kinder-und Jugendpsychiatrie in Tirol, die Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl wieder in den Mittelpunkt. In ihr wurden von 1954 bis zur Schließung 1987 verhaltensauffällige Kinder „behandelt". Bereits 1980 gab es allerdings massive Kritik an den rückwärtsgewandten und zweifelhaften Methoden von Nowak-Vogl, die so aus heutiger Sicht auch nicht als Therapie eingestuft werden können. 2013 wurde ein erster Forschungsbericht der Medizinischen Universität Innsbruck dazu präsentiert.

Elisabeth Dietrich-Daum (Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie), Michaela Ralser (Institut für Erziehungswissenschaften), Alexandra Weiss (Institut für Zeitgeschichte) und Sylvelyn Hähner-Rombach (Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart) legten dann 2017 ihre 400 Seiten umfassende Forschungsarbeit vor. Und sie bestätigten die bisher bekannten Fakten: Die Patienten wurden mit Medikamenten ruhig gestellt, geschlagen und gedemütigt. Die ExpertInnenkommission hat die Geschichte der Beobachtungsstation umfassend aufgearbeitet. Praxis und Behandlungsmethoden der 1998 verstorbenen Maria Nowak-Vogl entstammen u. a. der NS-Zeit.

Trotzdem konnte sie ihre psychiatrische Deutungshoheit bis in die späten 1970er-Jahre in Tirol noch weiter ausbauen. 3654 Krankenakte liegen vor, 1400 wurden von den Wissenschaftlerinnen ausgewertet. Dazu kommen noch Zeitzeugenberichte. „Für alle ist der Aufenthalt mit psychischen und physischen Verletzungen verbunden, sie (...) erinnern sich an eine Mischung von Gefängnis, Kinderheim und (Versuchs-)Klinik", heißt es in der Studie.

📽️ Video | Opfer Christian Herbst erzählt

Die Liste Fritz fordert jetzt Gerechtigkeit für die damaligen Opfer. 250 von ihnen wurden bisher durch das Land Tirol entschädigt, der niedrigste Entschädigungs-Beitrag betrug 500 Euro. In zwei Fällen wurde dieser Betrag sogar unterschritten.

Die Entschädigungskommission bewerte jeden einzelnen Sachverhalt nach Schwere, Dauer und Folgen der Übergriffe und entscheide dann über die Entschädigungshöhe, wobei auch Abgeltungen unterhalb von 5000 Euro vorgeschlagen würden, erklärt Soziallandesrätin Eva Pawlata (SPÖ). Nach den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Aufarbeitung und der Einschätzung der Entschädigungskommission sei der Aufenthalt auf der Nowak-Vogl Station strukturell anders zu betrachten, als es jener in Erziehungseinrichtungen des Landes Tirol der Fall gewesen sei. „Die Dauer der Unterbringung von Betroffenen erfolgte auf der Nowak-Vogl Station nur über einige Tage bis zu drei Monaten, was bei der Bemessung der Entschädigung durch die Kommission berücksichtigt wird“, betont Pawlata.

Die Liste Fritz fordert jetzt höhere Entschädigungen. Das Land müsse sich seiner besonderen Verantwortung bewusst sein, kritisiert Klubchef Markus Sint. Und die Opfer mit zumindest 15.000 Euro entschädigen. „Einige hundert oder tausend Euro erscheinen für ein verantwortliches Land wie Tirol nicht angemessen. Das Leid der Kinder kann ohnehin nicht mehr ungeschehen gemacht werden, aber Gerechtigkeit für die Opfer kann das Land Tirol sicherstellen und eine würdige Entschädigung bieten.“

Liste Fritz fordert Mindestentschädigung von 15.000 Euro

In einem Landtagsantrag im Mai schlägt die Liste Fritz jetzt vor, alle Opfer der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl gleichzubehandeln und alle mit zumindest 15.000 Euro zu entschädigen. „Dabei sollen Betroffene, die bereits mit einem geringeren Betrag entschädigt wurden, eine Aufzahlung auf diesen Mindestsatz erhalten.“ Einer davon ist Christian Herbst (60), der als Zwölfjähriger 85 Tage lang dort „eingesperrt“ war. Er hat 1000 Euro erhalten und kämpfte bisher vergeblich um eine höhere Entschädigung. Herbst spricht heute von einem Aufenthalt des Schreckens, der normale Tagesablauf sei mehr ein Martyrium denn Aufenthalt gewesen.

„Auch mit körperlichen Züchtigungen war stets zu rechnen. Ständiges Schüren von Ängsten, das Erniedrigen von Schwächeren, die Züchtigung von Freigeistern und die Beschimpfungen als minderwertiges Mitglied der Gesellschaft standen auf der Tagesordnung“, schildert Herbst. Er sei als „abartige Kreatur“ eingestuft worden.

Warum kam er in die Beobachtungsstation? Er war im Gymnasium und hatte einmal beim Klavierspielen die falsche Taste erwischt. Der Musiklehrer ließ den Klavierdeckel fallen und brach dem Buben vier Finger. Dermaßen traumatisiert wollte er nicht mehr in die Schule gehen, er lehnte sich auf. Er kam in die Hauptschule und benahm sich dort als Freigeist. Dann habe alles seinen Lauf genommen und letztlich folgte der Aufenthalt bei Nowak-Vogl. „Es tut überall gleich weh“, wehrt er sich gegen Abstufungen und Bewertungen, wo den Kindern Gewalt angetan wurde. (pn)