Russland lässt Gebiete nahe Südfront evakuieren, Wagner droht mit Bachmut-Rückzug
Bachmut – Die russischen Besatzer haben die Evakuierung von Gebieten nahe der Front in der südukrainischen Region Saporischschja angekündigt. Betroffen seien 18 Siedlungen, teilte der von Russland eingesetzte "Gouverneur" Saporischschjas, Jewgeni Balitsky, am Freitag nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax mit. Als Begründung nannte er den verstärkten Beschuss des Gebietes durch die ukrainische Seite. Russland hält vier Fünftel der Region besetzt.
Unter anderem soll auch die Stadt Enerhodar, in der das Atomkraftwerk Saporischschja liegt, geräumt werden. Daneben sollen auch die Bewohner der Städte Tokmak und Polohy sowie der Großsiedlungen Kamjanka und Rosiwka ihre Koffer packen. Die Ortschaften liegen teilweise bis zu 40 Kilometer hinter der aktuellen Frontlinie.
Seit Wochen wird erwartet, dass die Ukraine mit einer Gegenoffensive zur Rückeroberung weiterer besetzter Gebiete beginnt. Im vergangenen Herbst war in der Südukraine bereits die Großstadt Cherson nach einem russischen Rückzug an Kiew gefallen. Die Region Saporischschja gilt nach Einschätzung von Experten als wahrscheinlichstes Angriffsziel, weil die dort liegende Stadt Melitopol als Achillesferse der russischen Landverbindung zwischen der Halbinsel Krim und der Ostukraine gilt.
Prigoschin drohte mit Wagner-Rückzug in Bachmut
Das ukrainische Militär sieht indes trotz einer Ankündigung von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin keine Anzeichen für einen baldigen Abzug der russischen Söldner aus Bachmut. "Diese Erklärungen wurden vor dem Hintergrund gemacht, dass er ein weiteres Versprechen, Bachmut bis zum 9. Mai zu erobern, nicht erfüllen kann", sagte ein Vertreter der Militäraufklärung, Andrij Tschernjak, am Freitag der Nachrichtenagentur RBK-Ukrajina. Prigoschin versuche damit nur, die Verantwortung auf andere abzuschieben. Auch sehe man keinen Munitionsmangel auf russischer Seite. Nur am Freitag seien Bachmut und Umgebung 520 Mal mit Artillerie beschossen worden, erklärte Armeesprecher Serhij Tscherewatyj. Der eigentliche Hintergrund der Erklärungen Prigoschins seien die hohen Verluste der Söldnertruppen von 100 und mehr Toten pro Tag.
Der ukrainische Generalstab berichtete am Freitagabend in seinem täglichen Lagebericht von anhaltend schweren Kämpfen im Osten des Landes. Die schwersten Gefechte habe es um Bachmut und Marjinka gegeben. Nur an diesen beiden Abschnitten seien knapp 30 russische Angriffe zurückgeschlagen worden. Auch bei Limansk gab es schwere Kämpfe. Am Nachmittag wurde zudem in Kiew und einem Großteil des restlichen Landes Luftalarm ausgelöst.
Kadyrow will einspringen
Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow bot indes an, seine eigene Truppe "Achmat" nach Bachmut zu schicken. "Ja, wenn der ältere Bruder Prigoschin und "Wagner" gehen sollten, dann verliert der Generalstab eine erfahrene Einheit und an ihre Stelle könnten dann der kleine Bruder Kadyrow und "Achmat" treten", schrieb Kadyrow am Freitag auf Telegram. Seine Kämpfer seien bereit, voranzugehen und die Stadt zu erobern. "Das ist nur eine Frage von Stunden."
Prigoschin hatte in einem Video angekündigt, seine Gruppe am 10. Mai in Nachschublager zurückziehen zu wollen. Grund sei ein Mangel an Munition, an dem das Verteidigungsministerium in Moskau schuld sei. "Ich ziehe die Wagner-Einheiten aus Bachmut ab, denn ohne Munition sind sie dem sinnlosen Tod geweiht", erklärte Prigoschin in dem Freitag auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichten Video. In Bachmut, um das die Russen seit Monaten in äußerst verlustreichen Gefechten kämpfen, sei von 45 Quadratkilometern bereits alles bis auf 2,5 Quadratkilometer erobert, behauptete Prigoschin. "Wenn ihr uns keine Granaten gebt, bringt ihr nicht uns um den Sieg, ihr bringt das russische Volk um den Sieg." Zugleich schrieb er: "Wenn Russland in Gefahr sein wird, werden wir erneut zur Verteidigung kommen."
Prigoschin will offenbar seine Söldner nur einen Tag nach den Feiern zum Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland am 9. Mai zurückziehen, der traditionell in der russischen Hauptstadt mit einer prestigeträchtigen Militärparade begangen wird. Es war aber zunächst unklar, ob man Prigoschins Erklärung für bare Münze nehmen kann, da er in der Vergangenheit häufig impulsive Kommentare abgegeben hat. Erst vorige Woche nahm er eine Aussage als "Scherz" zurück.
Kremlsprecher Dmitri Peskow kommentierte Prigoschins Ankündigung zunächst lediglich mit den Worten: "Wir haben das natürlich in den Medien gesehen. Aber ich kann das nicht kommentieren, weil es den Verlauf der militärischen Spezialoperation betrifft." Das russische Verteidigungsministerium schwieg zu den Wagner-Vorwürfen und meldete stattdessen Erfolge. "Im Gebiet Donezk haben die Sturmtruppen ihre Angriffe im Westen von Artjomowsk (russische Bezeichnung für Bachmut) fortgesetzt", sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Freitag in Moskau. Dabei seien sie von Luftlandeeinheiten unterstützt worden, die den Feind an den Flanken gebunden hätten, betonte er.
Brutale Söldnergruppe greift für Kreml an
Im seit mehr als 14 Monaten andauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kämpfen Prigoschins Söldner, die für brutales Vorgehen berüchtigt sind, derzeit vor allem um die Stadt Bachmut. Vor dem Hintergrund der äußerst verlustreichen Gefechte treten dabei immer häufiger Machtkämpfe zwischen dem Wagner-Chef und Russlands regulärer Armee zutage. Mehrfach schon kritisierte Prigoschin, dass seine Männer nicht ausreichend versorgt würden.
Nur wenige Stunden vor seiner Abzugsdrohung hatte Prigoschin sich mit wüsten Beleidigungen an Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow gewandt und eine bessere Versorgung seiner Männer gefordert. "Schoigu, Gerassimow, wo, verdammte Scheiße, ist die Munition?", schrie er in einem ebenfalls auf Telegram veröffentlichten Video. "Das sind Wagner-Jungs, die heute gestorben sind. Das Blut ist noch frisch", sagte Prigoschin und deutete auf die Leichen um ihn herum. "Sie kamen als Freiwillige hierher und sterben, damit ihr in euren Büros fett werden könnt." Anschließend schimpft er weiter: "Ihr Biester, ihr sitzt in teuren Clubs, eure Kinder haben Spaß am Leben und nehmen Youtube-Clips auf."
Rückzug aus Bachmut wäre symbolisch bedeutende Niederlage
Der Raum um die Stadt Bachmut, die vor dem Krieg gut 70.000 Einwohner zählte, ist seit Oktober schwer umkämpft. Unter hohen Verlusten haben die Wagner-Kämpfer die Ukrainer zuletzt immer weiter zurückgedrängt, Bachmut aber nicht vollständig erobern können. Ein Rückzug aus der inzwischen völlig zerstörten Stadt im ostukrainischen Gebiet Donezk wäre für Moskau zwar aus militärstrategischer Sicht keine allzu bedeutende Niederlage - aus symbolischer aber wohl umso mehr.
Wie viele Wagner-Söldner derzeit in Bachmut kämpfen, ist nicht bekannt. Russischen Militärbloggern zufolge sollen sie in der Stadt selbst aber fast alleine im Einsatz sein und nur an den Flanken von regulären Soldaten unterstützt werden. Laut ukrainischen Angaben sind auch russische Luftlandetruppen und eine Motorschützenbrigade bei Bachmut stationiert.
Feuer in Schwarzmeer-Raffinerie
In Südrussland wurde Medienberichten zufolge eine Raffinerie nahe dem Schwarzmeer-Hafen Noworossijsk erneut Ziel eines Drohnenangriffs. In der betroffenen Ölraffinerie Ilski sei dabei wieder ein Brand ausgebrochen, meldete die russische Nachrichtenagentur TASS am Freitag unter Berufung auf die Rettungsdienste.
Im Zusammenhang mit dem Drohnenangriff auf den Kreml, zu dem es nach russischen Angaben am Mittwoch gekommen sein soll, drohte Außenminister Sergej Lawrow indes mit Vergeltung. "Es war eindeutig ein feindlicher Akt, und es ist klar, dass die Kiewer Terroristen ihn nicht ohne das Wissen ihrer Herren begangen haben können", sagte Lawrow auf einer Pressekonferenz in Indien. Das Präsidialamt in Moskau erklärte, der russische Sicherheitsrat werde sich voraussichtlich noch am Freitag mit dem Vorfall befassen. Russland hat die Ukraine beschuldigt, mit einem Drohnenangriff auf den Kreml ein Attentat auf Präsident Wladimir Putin versucht zu haben. Die Ukraine hat das zurückgewiesen. Die USA hatten russische Vorwürfe hinter dem Angriff zu stecken, als Lüge bezeichnet. US-Experten äußerten indes die Vermutung, dass die Drohnen in Russland gestartet worden seien. Sie verwiesen auf die starken Abwehrsysteme rund um Moskau, die eine Abschaltung von GPS-Steuerung erforderten, und die große Entfernung zur Ukraine, die nur wenige Drohenmodelle zurücklegen können. (APA, Reuters)