Gegen die Bomben ansingen: Anna und Anastasia Jermolaewa im Porträt
Anna Jermolaewa wird Österreich bei der Biennale in Venedig 2024 vertreten. Aktuell stellt die russisch-österreichische Künstlerin zum ersten Mal mit ihrer Tochter Anastasia in Innsbruck aus. Ein Porträt.
Innsbruck – Seit zwanzig Jahren kooperiert Johann Widauer bereits mit Anna Jermolaewa. Und zeigt die Arbeiten der russisch-österreichischen Künstlerin regelmäßig in seiner Innsbrucker Galerie. Der aktuellen, bereits über Monate geplanten Schau ist besondere Aufmerksamkeit garantiert. Seit Anfang des Jahres ist bekannt, Anna Jermolaewa wird 2024 den österreichischen Pavillon der Biennale in Venedig bespielen. In „A Language of Resistance“ wird sich Jermolaewa dafür mit gewaltfreiem Widerstand auseinandersetzen – ein Thema, das schon in ihrer jüngsten und bisher größten Überblicksausstellung im Linzer Schlossmuseum eine Rolle spielte. Auch in ihrer Schau in Innsbruck sind Anklänge auszumachen. Besonders ist die Schau auch deshalb, weil gleichzeitig Arbeiten von Jermolaewas Tochter Anastasia zu sehen sind. Die TT hat beide Künstlerinnen zum Gespräch getroffen.
Noch will Anna Jermolaewa, die 1970 im heutigen St. Petersburg geboren wurde, nicht allzu viel über ihre anstehende Biennale-Präsentation preisgeben. „Das stört den Prozess nur“, sagt Jermolaewa, die künstlerisch vornehmlich in Video und Performance zuhause ist. Gemeinsam mit Kuratorin Gabriele Spindler tüftelt sie derzeit an der Präsentation. Mit dem Pavillon selbst will sich die Künstlerin aber nicht direkt auseinandersetzen – so viel sei schon einmal verraten. Mehr weiß aber selbst Tochter Anastasia Jermolaewa nicht. Und das sei schon etwas Besonderes, meint sie, die 1994 in Wien geborene Künstlerin. Man unterstütze sich beim Arbeiten gegenseitig, erklärt die Tochter, „am Ende bleiben es aber doch unsere eigenen Arbeiten“. Sie habe sich in ihrem Studium bei Hans Schabus an der Angewandten in Wien explizit der Skulptur verschrieben – „auch um mich von Anna abzuheben“, sagt Anastasia Jermolaewa. Die Arbeiten der Mutter sind von gesellschaftspolitischen Fragen durchdrungen, das wird auch in ihrer Innsbrucker Schau klar. Konkret für das Motiv des Widerstands finden sich Anknüpfungspunkte in der Biografie der 53-Jährigen.
Gegen das politische System in Russland hat sich Jermolaewa in ihrer Jugend als Teil der oppositionellen Partei „Demokratische Union“ aufgelehnt. Gemeinsam mit anderen gab sie eine regierungskritische Zeitung heraus – über eineinhalb Jahre produziert in der eigenen Wohnung, erinnert sich die Künstlerin heute. 1988 erhöhte sich der Druck, bei Hausdurchsuchungen wurde auch ihre Kunst mitgenommen. Bis heute versucht Jermolaewa vergeblich an ihre frühen Arbeiten zu kommen.
Im Mai 1989 gelang Jermolaewa schließlich die Flucht vor der drohenden Inhaftierung über Limburg und Krakau nach Wien, wo sie politisches Asyl bekam. Gestrandet war sie zunächst am Westbahnhof – mit ihrem 2006 entstandenen Video „Research For Sleeping Positions“ erinnert sie an diese ersten Tage in Österreich. Und damit auch an die beschwerliche Lage als politisch Geflüchtete. Die eigene Migrationsgeschichte greift sogar auf das Werk ihrer Tochter über. Anastasia Jermolaewa, 1994 in Österreich geboren und derzeit in den USA lebend, zeigt in ihrem bei Widauer ausgestellten Video „Russian Accent Lesson“ etwa, wie sie in den USA einen russischen Akzent aneignet.
Der eigenen Biografie fühlt Anna Jermolaewa derweil in „My Psychogeography“ (2019) nach, die ebenso in der Gemeinschaftsschau zu sehen ist. Aktuell verbinde sie wenig mit der einstigen Heimat, sagt die Künstlerin. Und: „Ich empfinde teilweise sogar Hass, wenn ich an das Land denke“, in dem sie als Teil einer jüdischen Familie aufgewachsen ist. Alle haben Russland verlassen. Inzwischen ist Jermolaewa froh, dass sie mit ihrer Arbeit niemanden mehr gefährden könne, erklärt die Künstlerin. Den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beschreibt sie als „dramatische Situation“.
Mit ihrer Kunst gehe es Jermolaewa letztlich darum, „die Welt zu verändern“, sagt sie in Innsbruck. Wenigstens temporär gelingt es ihr, etwa in „Singing Revolution“, einem ihrer neuesten Werke. Dafür ließ sie in den drei baltischen Hauptstädten drei Chöre Befreiungslieder intonieren, die schon Ende der 1980er die Unabhängigkeit von der Sowjetunion forderten. Bei Jermolaewa erklingen sie nun auch als Antwort auf die Bomben auf die Ukraine. Gut vorstellbar, dass die Videoinstallation Teil des Schwerpunkts zu zivilem Ungehorsam wird, den Jermolaewa 2024 in Venedig zeigen wird. Bis Juli kann man Jermolaewa derweil in Innsbruck besser kennen lernen.
📍 Galerie Widauer. Erlerstr. 13, Innsbruck; bis Juli 2023, Di–Do 14–18 Uhr, Sa 9–13 Uhr.