Risse zu Beginn der Almsaison: Der Wolf kam, um in Tirol zu bleiben
Eine Koexistenz mit dem Wolf ist möglich. Davon sind Experten, die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigen, überzeugt. Aber wie? Eine Multimedia-Reportage der TT begibt sich auf Spurensuche.
Zu Beginn des Almsommers überschlagen sich derzeit die Meldungen: zahlreiche Schafrisse, zum Abschuss freigegebene „Problemwölfe“ und Schafherden, die wieder ins Tal abgetrieben werden mussten – um sie vor den Räubern zu schützen. Es wird eine schwierige Saison, das hat so mancher prognostiziert – bereits im Mai erfüllt sich diese Vorhersage.
Wie soll das Zusammenleben zwischen Mensch, Weidevieh und Raubtieren in Zukunft gelingen? Experten sagen, das sei möglich. Eine hundertprozentige Sicherheit wird es nie geben, meint Wilhelm Mayr vom Österreichzentrum Bär Wolf Luchs (ÖZ). Aber mit einem grenzübergreifenden Wolfsmanagement – also Herdenschutz und Entnahmen – könne eine möglichst konfliktarme Koexistenz gelingen.
1. Vorbild ist hier die Schweiz. David Gerke von der Gruppe Wolf Schweiz bemüht sich dort um die Vermittlung zwischen den Interessengruppen. Topografisch und kulturell ähnlich wie Tirol und Österreich von Tourismus und Landwirtschaft geprägt, hat man dort in den vergangenen 20 Jahren eine Strategie im Zusammenleben mit dem Wolf erarbeitet.
Es ist eine Mischung aus Herdenschutz mit Zäunen, Hirten und Nachtpferchen, Herdenschutzhunden sowie Weideführung – und gezielten Abschüssen von Jungtieren in Rudeln oder als problematisch eingestuften erwachsenen Tieren. „Wir sehen, dass geschützte Almen deutlich weniger oft angegriffen werden als ungeschützte“, erklärt er.
Keine Schutzmaßnahmen zu schaffen mit der bloßen Behauptung, der Alpenraum sei für den Wolf nicht mehr geschaffen, sei keine Option. Trotz Abschüssen gibt es in der Schweiz immer wieder neue Rudel. „Der Wolf ist gekommen, um zu bleiben“, sagt Gerke. Eine Alm ohne Schutz werde unweigerlich zu deren Auflassung führen. Die Stimmung unter Landwirten habe sich gedreht. Sie kämpfen dafür, dass ihre Weideflächen als schützbar gelten – nur so gibt es die notwendige Förderung.
2. Marianne Heberlein ist wissenschaftliche Leiterin des Wolf Science Center (WSC), einer Abteilung der Veterinärmedizinischen Universität Wien. „Für den Wolf ist eigentlich das Wichtigste, möglichst wenig Energie aufzuwenden, um an Beute zu kommen. Das ist auch der Grund, warum er hauptsächlich kranke und schwache Tiere reißt, denn die könnten sich weniger wehren und so ist die Verletzungsgefahr geringer“, erklärt sie. Am Areal forscht die Wissenschafterin mit nordamerikanischen Wölfen und untersucht ihr Verhalten.
Werden Schafalmen nicht geschützt, kann es sein, dass sich der Wolf auf die Weidetiere spezialisiert – das würden Beispiele aus Frankreich zeigen, erklärt Heberlein. Auch wenn in diesen Gegenden mittlerweile mit Herdenschutz gearbeitet wird, sei es nicht einfach, die Wölfe von den Schafen fernzuhalten.
„Wölfe haben eine enorme Futterpräferenz. Was sie als Jungtiere als Futter kennen gelernt haben von ihren Eltern, das bevorzugen sie als Nahrung. Wenn sie also in einem Gebiet aufgewachsen sind, wo es keine Nutztiere als Nahrung gegeben hat, weil sie gut beschützt wurden, ist es weniger wahrscheinlich, dass sie diese später als Beute sehen“, sagt die Forscherin.
Von den Elterntieren lernen Jungtiere alles übers erfolgreiche Jagen. „Wenn Elterntiere die Nutztiere als Gefahr ansehen, weil sie beispielsweise bei der Jagd darauf einen Stromschlag erhalten haben, leben sie das ihrem Nachwuchs vor. Umgekehrt gilt das aber auch, wenn sie bei der Jagd erfolgreich waren.“ Hat sich ein Rudel in einem Territorium etabliert und ist an die dortigen Schutzmaßnahmen gewöhnt, bietet das einen enormen Schutz vor Rissen durch umherstreifende einzelne Tiere, weil diese vom Rudel vertrieben werden.
3. Thomas Schranz beschäftigt sich seit acht Jahren intensiv mit einer Frage: Wie hält man also den Wolf von den Schafen fern? Der Tösner hat sehr viel Kritik für seine Arbeit einstecken müssen, wie er erzählt. Man habe ihn auch als „Wolfskuschler“ bezeichnet.
Schranz züchtet Herdenschutzhunde – und die Nachfrage ist gestiegen, erzählt er. Der Einsatz der wehrhaften Tiere, die die Schafherde selbstständig beschützen, ist in Tirol umstritten. „Es hat schon letzten Sommer angefangen, dass immer mehr Leute bei mir angerufen haben, nachdem sie einen Übergriff hatten“, erzählt Schranz. Viele seien vor der Wahl gestanden, die Landwirtschaft aufzugeben oder in Herdenschutzhunde zu investieren. Inzwischen schützen seine Tiere nicht nur eine Alm in Stilfs, auch von privaten Bauern gebe es eine Nachfrage, so Schranz. Er glaubt nicht, dass man in Zukunft ohne diese tierischen Wächter auskommen kann.