Ursache Identifiziert

Mindestens 275 Tote und Hunderte Verletzte bei Zugunglück in Indien

Das Unglück ereignete sich im Osten des Landes.
© APA/AFP/DIBYANGSHU SARKAR

Neu-Delhi – Zwei Tage nach der Zugkatastrophe in Indien mit mindestens 288 Toten und mehr als 900 Verletzten hat die Regierung einen Fehler im elektronischen Signalsystem als Ursache benannt. "Wir haben die Ursache des Unfalls und die verantwortlichen Personen identifiziert", sagte am Sonntag der indische Minister für den Bahnverkehr, Ashwini Vaishnaw. Die Bergungsarbeiten an den Wracks der drei kollidierten Züge im ostindischen Bundesstaat Odisha waren am Vortag abgeschlossen worden.

Vaishnaw sagte nach Angaben der Nachrichtenagentur ANI, das Unglück sei auf eine "Änderung beim elektronischen Stellwerk zurückzuführen". Er bezog sich damit auf das komplexe Signalsystem, das die Streckenbewegungen der Züge regelt. Der Minister wollte aber keine weiteren Details nennen. Dies wäre vor der Veröffentlichung des endgültigen Untersuchungsberichts "nicht angemessen", sagte er.

Vor dem dem Unglück am Freitag nahe der Stadt Balasore sei der Coromandel Express von Kalkutta und Chennai durch die Signale auf eine Nebenstrecke umgeleitet worden, wo ein Güterzug auf den Gleisen gestanden habe, berichtete die Zeitung "Times of India" unter Berufung auf die vorläufigen Untersuchungsergebnisse. Der Expresszug sei mit einer Geschwindigkeit von 130 Stundenkilometern in den parkenden Güterzug gerast.

Drei Waggons seien dann durch den Aufprall auf daneben verlaufende Gleise geschleudert worden, berichtete die Zeitung weiter. Diese Waggons hätten den hinteren Teil eines anderen Expresszugs getroffen, der auf dem Weg von Bangalore nach Kalkutta gewesen sein. Durch diese zweite Kollision seien die meisten Menschen getötet worden.

📸 Bildergalerie | Schweres Zugunglück in Indien

Es handelte sich um das schwerste Zugsunglück in Indien seit mehr als zwei Jahrzehnten. Laut der "Times of India" könnte "menschliches Versagen bei der Signalgebung" die Katastrophe verursacht haben.

Der indische Premierminister Narendra Modi flog am Samstag mit einem Hubschrauber zum Unglücksort und besuchte Verletzten im Krankenhaus. "Kein Verantwortlicher" werde verschont, kündigte er danach an. "Ich bete, dass wir aus diesem traurigen Moment so schnell wie möglich herauskommen", sagte er dem Sender Doordarshan.

Am Unglücksort bot sich ein Bild der gigantischen Zerstörung mit umgestürzten Waggons und Bergen von Trümmerteilen. Einer der Koordinatoren des Bergungseinsatzes sagte am Samstag, die Suche nach Toten und Überlebenden sei beendet: "Alle Verletzten und Leichen wurden von der Unglücksstelle weggebracht."

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Die Zahl der Toten könne noch steigen, sagte der an der Unfallstelle eingesetzte Leiter der Feuerwehr, Sudhanshu Sarangi, der Nachrichtenagentur AFP. "Viele Menschen, die ins Krankenhaus gebracht wurden, erliegen dort ihren Verletzungen."

Eine weiterführende Schule nahe der Unfallstelle wurde in eine provisorische Leichenhalle umgewandelt. Nach Angaben von Polizisten waren viele der Leichen derart entstellt, dass Familien ihre Angehörigen nur an den Schmuckstücken erkennen konnten. Manche Körper hätten "keine sichtbaren Identitätsmerkmale mehr", sagte der für die Übergabe der Leichen an Angehörige zuständige Beamte Ranajit Nayak. Bei vielen Toten müsse ein DNA-Test Sicherheit schaffen.

📽 Video | Hunderte Tote und Verletzte bei schwerem Zugunglück

Der Augenzeuge Anubhav Dav saß im letzten Waggon einer der Züge, als er "entsetzliche kreischende Geräusche" hörte. Sein Wagen sei aufrecht stehen geblieben, und er habe unverletzt ins Freie springen können, sagte der 27-Jährige der AFP. Er habe zahlreiche "blutige Szenen" gesehen. "Als ich den Unfallort verlassen habe, konnte ich die Leichen nicht mehr zählen."

Die Solidarität nach dem Unglück ist groß. Viele Menschen haben schon in der Nacht des Unfalls in Krankenhäusern Blut für die Verletzten gespendet. "Ich hoffe, dass das einige Leben rettet", sagte ein Spender der Nachrichtenagentur ANI. Odishas Verwaltungschef Pradeep Kumar Jena sagte, er habe viele Anfragen von Blutspende-Interessierten erhalten.

Luftaufnahme von den involvierten Zügen.
© APA/AFP/AFPTV/JAYANTA SHAW

Passagierzüge entgleist, Güterzug involviert

Premierminister Narendra Modi besuchte am Samstag den Unglücksort. Sein Büro kündigte – wie dies in Indien bei Unfällen in Zusammenhang mit der Infrastruktur üblich ist – bereits kurz nach dem Unglück eine Entschädigung für die Angehörigen der Toten von je 200.000 Rupien (etwa 2300 Euro) an. Verletzte sollen etwa 50.000 Rupien bekommen.

Rund um die Welt kondolierten Politiker und Staatschefs, darunter auch der Präsident der vom russischen Angriffskrieg heimgesuchten Ukraine, Wolodymyr Selenskyj. Er twitterte an Modi und die Angehörigen der Opfer: "Wir teilen euren Schmerz des Verlusts."

Erst in den frühen Morgenstunden zeigte sich das Ausmaß der Katastrophe deutlicher.
© APA/AFP/DIBYANGSHU SARKAR

Russlands Präsident Wladimir Putin schrieb in einem Telegramm, das der Kreml veröffentlichte: "Wir teilen die Trauer derer, die bei dieser Katastrophe ihre Angehörigen verloren haben, und hoffen auf eine baldige Genesung aller Verletzten."

Papst Franziskus versicherte "allen, die von dieser Tragödie betroffen sind, seine geistliche Nähe". Seine Gedanken seien bei den trauernden Angehörigen und den Verletzten. Für die Rettungskräfte erbitte er die "göttlichen Gaben des Mutes und der Tapferkeit".

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen twitterte an Modi: "Europa trauert mit Ihnen".

Auch US-Präsident Joe Biden drückte sein Mitgefühl aus. "Jill und ich sind nach der tragischen Nachricht über das tödliche Zugsunglück in Indien untröstlich", sagte Biden am Samstag (Ortszeit) laut einer Mitteilung des Weißen Hauses in Washington auch im Namen der First Lady. Der Präsident und seine Frau seien in Gedanken bei den Menschen in Indien.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kondolierte der indischen Regierung ebenso wie viele weitere Staatenlenker und UN-Generalsekretär António Guterres. Aus dem Vatikan hieß es, Papst Franziskus bete "für die vielen Verletzten und die Anstrengungen der Rettungskräfte".

UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich laut seinem Sprecher Stéphane Dujarric nach dem Unglück "zutiefst betrübt". Der Generalsekretär kondoliere sowohl den Angehörigen der Opfer wie auch den Menschen in Indien und ihrer Regierung, hieß es in einer Stellungnahme aus New York.

Immer wieder schwere Unglücke mit Zügen

In Indien selbst lässt das Unglück wieder eine Diskussion um die Sicherheit der Bahn aufkommen – nachdem das Land nach schweren Unglücken in der Vergangenheit viel in die Bahn investiert hat und sich die Situation zuletzt verbessert zu haben schien.

Das bevölkerungsreichste Land mit rund 1,4 Milliarden Menschen hat ein großes, historisch gewachsenes Bahnnetz. Angesichts vieler alter Züge und überholungsbedürftiger Gleisanlagen gibt es häufig Unfälle. Doch derart hohe Opferzahlen sind seltener geworden.

Die Anteilnahme ist groß.
© APA/AFP/INDRANIL MUKHERJEE

Zu den schwersten Zugunfällen mit über 100 Toten gehörten in den letzten Jahrzehnten mehrere in Indien, darunter die Unglücke von Kanpur 2016, Valigonda 2005, Rafiganj 2002, Gaisal 1999 und Khanna 1998. In Pakistan starben im Juli 2005 in Sarhad beim Zusammenstoß dreier Fernzüge 137 Menschen, in Japan im April 2005 beim Zugsunglück von Amagasaki 107, weil der Lokomotivführer in einem Bogen nicht die vorgeschriebenen 70 Stundenkilometer eingehalten hatte.

Zu den schlimmsten Unfällen im Schienenverkehr gehört auch das Unglück von Eschede in Niedersachsen in Deutschland mit 101 Toten - dort prallten vor genau 25 Jahren, am 3. Juni 1998, nach dem Bruch eines Radreifens mehrere ICE-Waggons bei Tempo 200 gegen eine Straßenbrücke. Als größte Bahnkatastrophe der Geschichte gilt das Unglück von Seenigama in Sri Lanka, wo am 26. Dezember 2004 die Tsunami-Welle einen vollen Expresszug erfasste und ungefähr 1.800 Menschen starben. (APA/dpa/Reuters)

📰 Die schwersten Zugunglücke der vergangenen 25 Jahre

  • 2. Juni 2023: Im ostindischen Bundesstaat Odisha kollidieren zwei Personenzüge mit einem auf den Gleisen stehenden Güterzug. Nach Angaben der Feuerwehr kommen mindestens 288 Menschen ums Leben, hinzu kommen mehr als 850 Verletzte.
  • 28. Februar 2023: Auf der Strecke zwischen der griechischen Hauptstadt Athen und der Hafenstadt Thessaloniki stoßen zwei Züge frontal zusammen, 57 Menschen sterben.
  • 10. März 2022: In der Provinz Lualaba im Südosten der Demokratischen Republik Kongo entgleist ein Güterzug mit mehreren hundert blinden Passagieren. 75 Menschen kommen ums Leben, 125 weitere werden verletzt.
  • 2. April 2021: Im Osten Taiwans entgleist ein Zug in einem Tunnel nahe der Küstenstadt Hualien. Mindestens 51 Menschen sterben, 200 weitere werden verletzt.
  • 20. November 2016: Mindestens 146 Menschen werden getötet, als im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh ein Expresszug mit 2000 Passagieren an Bord entgleist.
  • 21. Oktober 2016: Im Zentrum Kameruns entgleist ein völlig überfüllter Zug auf dem Weg von der Hauptstadt Jaunde ins Wirtschaftszentrum Duala. Dabei sterben mindestens 79 Menschen, 550 weitere werden verletzt.
  • 22. April 2016: Im Süden der Demokratischen Republik Kongo entgleist ein Güterzug mit hunderten blinden Passagieren an Bord. Mindestens 136 Menschen kommen ums Leben.
  • 24. Juli 2013: Kurz vor dem spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela entgleist ein Hochgeschwindigkeitszug in einer Kurve und prallt gegen eine Wand. Mindestens 80 Menschen sterben und mehr als 140 werden verletzt.
  • 22. Februar 2012: Ein mit 2000 Menschen besetzter Zug fährt in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires ungebremst gegen einen Prellbock. Dabei sterben mindestens 50 Menschen, mehr als 700 werden verletzt.
  • 22. Juni 2010: Bei einem schweren Zugsunglück im Kongo sterben nahe der Hafenstadt Pointe-Noire mindestens 60 Menschen, weitere 280 werden verletzt.
  • 30. Juni 2009: Durch die Explosion eines Tankwaggons im Bahnhof der Stadt Viareggio im Nordwesten Italiens werden 29 Menschen getötet.
  • 22. Juli 2004: Im Nordwesten der Türkei entgleist in der Nähe der Stadt Pamukova ein Schnellzug von Istanbul nach Ankara. Es gibt 37 Tote und 81 Verletzte.
  • 22. April 2004: Rund 3000 Menschen werden durch eine Explosion an einer Bahnstrecke in Nordkorea getötet oder verletzt.
  • 18. Februar 2004: Im Iran kommen 320 Menschen kommen ums Leben, als ein mit Chemikalien beladener Güterzug explodiert.
  • 20. Februar 2002: 361 Menschen sterben in Ägypten bei einem Brand im Zug von Kairo nach Assuan.
  • 2. August 1999: Beim Zusammenstoß zweier Züge in der ostindischen Stadt Gaisal kommen mehr als 285 Menschen ums Leben.
  • 3. Juni 1998: Im niedersächsischen Eschede sterben 101 Menschen, als ein ICE wegen eines defekten Radreifens gegen eine Brücke prallt.

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