Nach dem Schlaganfall

Renate Welshs „Ich ohne Worte“: Die Rückeroberung des Alltags

Renate Welsh feierte Ende vergangenen Jahres ihren 85. Geburtstag. Für ihre Werke wurde sie vielfach ausgezeichnet.
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Im Sommer 2021 streifte die große Autorin Renate Welsh der Schlag. In ihrem Buch „Ich ohne Worte“ zeichnet sie ihren Weg zurück ins Leben nach.

Innsbruck – „Insult“, also Beleidigung. So nennen Mediziner das, was Nichtmediziner Schlaganfall nennen. Renate Welsh ist Nichtmedizinerin. Aber das, was ihr vor gut zwei Jahren im Urlaub in Italien zustieß – und ihr Autorinnenleben, wie es so schön heißt, aus der Bahn warf, nennt sie trotzdem „Insult“ – und beleidigt war sie wohl zunächst auch. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet jetzt – kurz vor der überlebenswichtigen, pandemiebedingt mehrfach verschobenen Herzoperation ihres Mannes. Ausgerechnet in Italien, wo vierschrötige Männer Tomographen bedienen und den Wunsch der Patientin, endlich aufs Klo gebracht zu werden, aufs Irgendwann verschieben. Und eben auch: Ausgerechnet Italien, wo Pflegerinnen in orangefarbenen Kitteln die „povera cara“ mit echtem Mitleid an die Brust drücken. Das gibt manchmal Halt. Und manchmal beruhigt es. Manchmal aber nützt es nichts. Einer Mitpatientin wünscht sie insgeheim den Tod. Und die, die sie besuchen und die ihre Sprechversuche mit bester Absicht „normal“ nennen, schimpft sie Heuchler. Ein Computertest weist ihr später unterdurchschnittliche sprachliche Fähigkeiten aus. „Insult“ lässt sich auch mit Kränkung übersetzen.

Renate Welsh – hochgeachtete und vielbepreiste Verfasserin zeitloser Kinder- und Jugend-, aber auch großartiger so genannter Erwachsenenbücher – war Anfang achtzig, als sie 2021 der Schlag streifte. Der „Insult“ nahm ihr die Sprache. In ihrem jüngsten Buch „Ich ohne Worte“ erzählt die 85-Jährige davon: schonungslos und direkt, manchmal fast schon galgenhumorig und durchwegs frei von Betroffenheitskitsch. Selbst Schiller’sches Pathos hat hier eine nicht unbedingt erhabene, aber rettende Funktion: Die einst auswendig gelernten Balladen sind, ohne dass sich Welsh aussuchen könnte, welche, in den Nächten, in denen die Wörter ganz besonders fehlen und in fremden Betten Fürze donnern, das „Öl im Getriebe“. Sie verhinderten, „dass mein Hirn ständig heiß und wund lief“.

Der Weg zurück ist lang – schon die ziemlich abenteuerliche Überstellung vom Ospedale auf der Isola in die Isolation des Wiener AKH zieht sich. Dort wird sie später eine erste Lesung für Patienten und Personal machen. Doch bis dahin dauert es noch. Zunächst stolpert sie durch die Sätze. Wenn überhaupt. Die Befürchtung, der Schlaganfall hätte ihre Erinnerungen ausgelöscht, bestätigt sich nicht. Szenen von früher, aus einer anderen Zeit, blitzen auf. „Ich ohne Worte“ ist nicht nur Schilderung eines „Insults“ und der Therapie danach, sondern Reflexion über das, was davor war, und das, was vom Davor geblieben ist. Renate Welsh denkt über ihr Leben nach und über das Leben überhaupt, über verschiedene Formen der Hilf- und Sprachlosigkeit, über das Sprechen und Schreiben, darüber, dass es manchen anscheinend (oder doch nur scheinbar) nie an Worten oder Lautstärke fehlt. Und über das Tun denkt sie nach, über das Scheitern, die Scham, das Neuanfangen und Weitermachen. Vom Leben also erzählt sie, vom Leben in seiner hundsgewöhnlichen Außerordentlichkeit – und von der Liebe. Und von den kleinen Schritten, mit denen der Alltag zurückerobert werden will. Weil es noch einmal gut gegangen ist. Auch für Renate Welshs Mann. Irgendwie und den Umständen entsprechend. Es sind nicht zuletzt die Be- und Erschreibungen dieser Umstände, die „Ich ohne Worte“ zu einem herausragenden Buch machen.