Nach anhaltenden Unruhen in Frankreich sagte Macron Staatsbesuch in Deutschland ab
Am vierten Tag nach den tödlichen Polizeischüssen auf einen 17-Jährigen in Paris-Nanterre haben sich die Krawalle nicht nur auf ganz Frankreich, sondern auch auf Übersee und Brüssel ausgeweitet. Staatspräsident Macron sagte am Samstag seinen Besuch in Deutschland kurzfristig ab.
Paris – In mehreren französischen Städten ist es die vierte Nacht in Folge zu Ausschreitungen gekommen. Aufgrund des Ausmaßes der Krawalle sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Samstag auch seinen Deutschland-Besuch kurzfristig ab. Das teilten der Elysée-Palast in Paris und das Präsidialamt in Berlin am Samstag mit. Auch der Elysée-Palast bestätigte dies. Macron wollte eigentlich am Sonntag für einen dreitägigen Staatsbesuch nach Deutschland reisen, das offizielle Besuchsprogramm sollte am Montag beginnen.
Macron habe am Samstag mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier telefoniert und diesen über die Situation in seinem Land unterrichtet, sagte eine Sprecherin Steinmeiers. „Präsident Macron hat darum gebeten, den geplanten Staatsbesuch in Deutschland zu verschieben."
Steinmeier bedauere die Absage und habe vollstes Verständnis angesichts der Situation in Frankreich. Er verfolge die Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit. Steinmeier hoffe, dass die Gewalt auf den Straßen baldmöglichst beendet und der soziale Friede wieder hergestellt werden kann.
Bislang mehr als 1300 Festnahmen
Laut dem französischen Innenministerium sind mehr als 1300 Menschen bislang bei den Protesten festgenommen worden. Das Ausmaß der Gewalt sei aber geringer gewesen als in der Nacht zuvor, hieß es in dem vorläufigen Bericht.
Ausgelöst wurden die Krawalle durch den Tod eines 17-Jährigen nordafrikanischer Abstammung, der am Dienstag von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen wurde. An diesem Samstag soll Nahel M. in seinem Heimatort Nanterre, einem Vorort von Paris, beigesetzt werden. Die Straßen zum Friedhof sollen abgesperrt werden.
In Nanterre fuhren am Vormittag keine Busse. Es war ruhig. Eine Gruppe von etwa 30 jungen Männern hielt Wache am Eingang des Bestattungsinstituts. Sie baten die Menschen, keine Fotos zu machen. Polizei war nicht zu sehen, als sich Trauernde in einer nahegelegenen Moschee versammelten. "Wir sind kein Teil der Familie und kannten Nahel nicht, aber wir waren sehr berührt von dem, was in unserer Stadt passiert ist", sagte einer der jungen Männer. "Deshalb wollten wir unser Beileid ausdrücken."
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Jugendlicher wird am Samstag beerdigt
In der Nacht war es nicht nur in Paris zu heftigen Ausschreitungen gekommen, sondern auch in Marseille, Lyon, Toulouse, Straßburg und Lille. 45.000 Polizistinnen und Polizisten waren Innenminister Gerald Darmanin zufolge im ganzen Land im Einsatz, 5.000 mehr als am Tag zuvor. Seit Beginn der Unruhen wurden mehr als 2.000 Menschen in Gewahrsam genommen, Darmanin zufolge liegt ihr Durchschnittsalter bei 17 Jahren. 200 Polizisten wurden nach offiziellen Angaben verletzt. Schätzungsweise 2.000 Fahrzeuge wurden in Brand gesteckt, mehrere Gebäude gingen in Flammen auf, Dutzende Geschäfte wurden geplündert.
Allein in Marseille wurden nach offiziellen Angaben in der Nacht 80 Personen festgenommen. In Frankreichs zweitgrößter Stadt leben zahlreiche Menschen nordafrikanischer Herkunft. Bilder, die in den sozialen Medien verbreitet wurden, zeigten eine Explosion im alten Hafengebiet. Die Stadtverwaltung erklärte, die Ursache werde untersucht. Man gehe jedoch nicht davon aus, dass es Opfer gegeben habe. Im Zentrum der Stadt plünderten Randalierer ein Waffengeschäft und stahlen laut Polizei einige Jagdgewehre, jedoch keine Munition. Eine Person mit einem vermutlich gestohlenen Gewehr sei festgenommen worden, das Geschäft werde nun von der Polizei bewacht.
Der Bürgermeister von Marseille, Benoit Payan, rief die Regierung auf, umgehend zusätzliche Sicherheitskräfte zu schicken. "Die Plünderungs- und Gewaltszenen sind inakzeptabel", schrieb er Freitagnacht auf Twitter.
Gegen Polizist wird wegen Totschlags ermittelt
In Lille, Frankreichs drittgrößter Stadt, setzte die Polizei Schützenpanzerwagen und einen Hubschrauber ein. In Paris räumte die Polizei am Freitagabend die Place de la Concorde, den größten Platz der Hauptstadt. Dort hatten sich zahlreiche Menschen zu einer Protestkundgebung versammelt.
Der Gewaltausbruch hat Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung in die schwerste Krise seit Beginn der Gelbwesten-Proteste im Jahr 2018 gestürzt. Die Verhängung des Notstandes hat Macron bisher nicht angeordnet – ausgeschlossen ist das Darmanin zufolge allerdings nicht. "Wir schließen keine Hypothese aus, und wir werden nach heute Abend sehen, wie sich der Präsident der Republik entscheidet", sagte er dem Sender TF1 am Freitagabend.
Viele Menschen aus armen Stadtvierteln, in denen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft leben, fühlen sich benachteiligt und von der Regierung vernachlässigt. Seit langem häufen sich zudem Beschwerden über Polizeigewalt und Rassismus. Die Krawalle erinnern an die Straßenschlachten im Jahr 2005, die damals drei Wochen lang dauerten. Damals hatten sich in Paris zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen versteckt und kamen durch Stromschlag ums Leben. Präsident Jacques Chirac sah sich seinerzeit gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen.
Nahel M., der marokkanische und algerische Wurzeln hat, wurde am Dienstag bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten erschossen. Videoaufnahmen von dem Vorfall wurden in den sozialen Medien verbreitet. Der Polizist hat eingeräumt, den Schuss auf den Jugendlichen abgegeben zu haben, als dieser mit seinem Wagen trotz der Kontrolle weiterfuhr. Sein Anwalt Laurent-Franck Lienard sagte, sein Mandant habe auf das Bein des Fahrers gezielt, sei aber beim Anfahren des Autos angefahren worden, wodurch er in Richtung Brust geschossen habe. "Offensichtlich wollte er den Fahrer nicht töten", sagte Lienard im Fernsehsender BFM. Der Polizist ist in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Totschlag.
Proteste weiteten sich aus
In Cayenne, der Hauptstadt des südamerikanischen Französisch-Guayana, wurde in Zusammenhang mit den Unruhen ein Mann in der Nacht zum Freitag (Ortszeit) durch einen Querschläger getötet, wie die örtlichen Behörden mitteilten. Nach Medienberichten handelte es sich bei dem Mann um einen Mitarbeiter der Lokalverwaltung.
Auch im karibischen Überseegebiet Martinique kam es nach einem Bericht des regionalen Portals France-Antilles in der Nacht zum Freitag zu Gewalt. Etwa 20 bis 30 Vermummte warfen demnach in der Hauptstadt Fort-de-France mit Steinen auf Polizisten. An mehreren Orten seien Mülltonnen angezündet worden.
Auch in Brüssel kamen am Freitagnachmittag als Reaktion auf den Tod des 17-Jährigen erneut Jugendliche zusammen. Einer Polizeisprecherin zufolge versammelten sie sich nach einem Aufruf in sozialen Netzwerken an verschiedenen Orten. Zwischenzeitlich seien rund 50 Menschen präventiv festgenommen worden, hieß es. Bereits am Donnerstagabend war es in der belgischen Hauptstadt zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften gekommen.
Der französische Fußballstar Kylian Mbappé zeigte sich betroffen vom Tod des 17-Jährigen und warnte vor Gewalt. "Seit diesem tragischen Ereignis sind wir Zeuge des Ausdrucks der Wut der Bevölkerung, deren Inhalt wir verstehen, deren Form wir jedoch nicht gutheißen können", heißt es in dem Statement, das er am Freitagabend wohl zusammen mit anderen Nationalspielern veröffentlichte. Gewalt löse keine Probleme. "Die Zeit der Gewalt muss enden, um der Zeit der Trauer, des Dialogs und des Wiederaufbaus Platz zu machen", erklärte Mbappé. (APA/dpa)
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