Triumph für die Ausnahme: Bachmann-Preis geht an Valeria Gordeev
Viele Ich-Texte und einer, der putzt: Valeria Gordeev wurde am Sonntag bei den 47. Tagen der deutschsprachigen Literatur mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.
Innsbruck – Im Nachhinein betrachtet, waren alle Vorzeichen da: Valeria Gordeev wurde nach ihrer Lesung am Donnerstag von der Bachmann-Preis-Jury in den höchsten Tönen gelobt. Für ihren Romanauszug „Er putzt“, in dem etwa Juror Thomas Strässle einen „kolossal guten Text auf allen Ebenen“ erkannte – und für ihren Vortrag, der die Erzählung zusätzlich antrieb. In „Er putzt“ geht es um einen Putzneurotiker und Bakterienphobiker, der sich mit selbstgebrauten Spezialmitteln durch seine Wohnung kämpft. Dass das Putzen auch Ventil für aufgestaute Wut ist, wird schnell klar. Dass diese Wut einen Quell hat – und bisweilen auch ein anderes Ventil findet –, entwickelt Gordeev kunstvoll und mit großem dramaturgischem Gespür.
Auch das macht „Er putzt“ zu einem buchstäblich herausragenden Text eines, wie die Sonntagmittag gekürte Bachmann-Preisträgerin sagte, sehr guten Jahrgangs. Gordeevs Arbeit ragt auch deshalb aus jenen ihrer zehn Konkurrentinnen und Konkurrenten heraus, weil sie nicht aus einer Ich-Sicht heraus, sondern personal erzählt ist. Der mit 25.000 Euro dotierte Hauptpreis der 47. Klagenfurter Tage der deutschsprachigen Literatur ging also – völlig zu Recht – an eine Ausnahme. In der Regel, auch dieses Fazit drängt sich auf, wagt es die jüngere deutschsprachige Literatur inzwischen wieder, ihre Figuren „ich“ sagen zu lassen.
Valeria Gordeev: „Mit dem Titel fremdle ich noch“
Bachmann-Preisträgerin Valeria Gordeev war sich sicher, dass Yevgeniy Breyger den Hauptpreis gewinnen wird.
1) Bachmann-Preisträgerin – wie fühlt sich das an? Mit dem Titel fremdle ich noch. Es ist eine große Ehre und Freude. Obwohl ich im Moment das Gefühl habe, mein inneres Empfinden spiegelt sich noch nicht so richtig in dem wider, was meine Gesichtsmuskulatur macht.
2) Haben Sie nach dem großen Jury-Lob mit einer Auszeichnung gerechnet? Ich habe mich entspannt mit dem Gedanken, dass es Yevgeniy Breyger wird. Ich habe auch die Kamera verfolgt, die deutlich in seine Richtung gewiesen hat. Das hat mir die vermeintliche Sicherheit gegeben, dass ich mich entspannen kann und da nicht rausmuss.
3) Sie haben gesagt, es sollte noch mehr Preise geben ... Es war ein sehr guter Jahrgang mit sehr vielen sehr guten Texten, die nach den Jury-Besprechungen zu Recht die Erwartung hatten, dass sie mit einem Preis nach Hause gehen. Es ist schade, dass diese hohe Qualität vieler Texte nicht im Sinne einer Preisvergabe gewürdigt wurde.
Das Interview führte Sonja Harter/APA
Ob sich aus dieser „ich“-Häufung auch mehr oder weniger eindeutige Rückschlüsse auf die erlauben, die die dazugehörigen Texte verfasst haben, war dementsprechend ein zentraler Diskussionspunkt der Jury-Debatten. Die Zeiten streng textimmanenter Interpretation jedenfalls scheinen, auch wenn sich vor allem Jurymitglied Philipp Tingler vehement dagegen wehrte, vorbei. Die beiden neuen JurorInnen – der bereits erwähnte Strässle und die deutsche Kulturwissenschafterin Mithu Sanyal – jedenfalls entpuppten sich auf dem Weg zu zusätzlicher Differenzierung als großer Gewinn. Strässle war zumeist um Versachlichung der Debatten bemüht, Sanyal öffnete mit ihrer ebenso reflektierten wie emotionalen Lesart bisweilen erstaunliche Perspektiven. Mehrfach gab sie an, bei der Lektüre geweint zu haben – und führte danach vor, dass auch Rührung Ausgangspunkt für Analyse sein kann.
Nach Klagenfurt eingeladen wurde die spätere Siegerin Valeria Gordeev von der Juryvorsitzenden Insa Wilke. Wilke lobte „Er putzt“ in ihrer Laudatio als „Plädoyer für die Empfindlichkeit, wenn es um die genaue Formulierung und politische Absicht geht“. Der Text öffne „die Tür zu einem literarischen Raum der Hingabe und Sorgfalt“ und mache mögliche Wege aus der Gleichgültigkeit erahnbar.
Neben dem Bachmann-Preis wurden am Sonntag vier weitere Auszeichnungen vergeben. Die Wienerin Anna Felnhofer wurde für ihren Text „Fische fangen“ mit dem mit 12.500 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis gewürdigt. „Fische fangen“ ist eine fast schon klinisch genaue, literarische Fallstudie über einen Jungen, der keine Gesichter identifizieren und somit keine Beziehungen aufbauen kann. Die Jury lobte unter anderem „die komplexe Psychologie einer Gewalterfahrung“.
Der Kelag-Preis in Höhe von 10.000 Euro ging an den polnisch-deutschen Autor Martin Piekar – er setzte sich in einer Stichwahl gegen die von der Jury gleichgereihte Schweizerin Laura Lepi durch. Piekars „Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volk“ handelt von einem Heranwachsenden, der mit seiner in der Pflege tätigen, einst aus Polen zugewanderten Mutter in einer zu kleinen Wohnung lebt. Darüber hinaus erhielt Piekar auch den Publikumspreis, der über eine Onlineabstimmung ermittelt wurde – das Preisgeld beträgt 7500 Euro.
Der ebenfalls mit 7500 Euro dotierte 3Sat-Preis ging an Laura Lepi, die mit „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“ den beeindruckenden Versuch wagte, dem Thema Vergewaltigung eine Sprache zu geben.
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