Israel startet Großoffensive im Westjordanland: Mindestens acht Tote
Die Stadt Jenin im Westjordanland gilt als Hochburg militanter Palästinenser. Nun startet Israel dort erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Großoffensive – mit offenem Ende. Auch an anderen Fronten könnte sich die Lage verschärfen.
Jenin – Erstmals seit zwei Jahrzehnten hat Israel wieder eine großangelegte Militäroffensive im Westjordanland begonnen. Die Armee rückte nach mehreren Luftschlägen in der Nacht auf Montag mit Bodentruppen in die palästinensische Stadt Jenin ein. Mindestens acht Palästinenser wurden getötet, darunter ein 16-Jähriger. Rund 50 weitere seien verletzt worden, davon befänden sich mehrere in kritischem Zustand, teilte das palästinensische Gesundheitsministerium mit.
In der Stadt kam es über Stunden zu heftigen Feuergefechten. Bei mindestens einem Toten soll es sich Berichten zufolge um einen militanten Palästinenser handeln. Die Kämpfe dauerten am Nachmittag weiter an.
Abbas setzt Kontakt mit Israel aus
Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas hat den Kontakt und die Sicherheitskoordination mit Israel ausgesetzt. Das teilte Abbas' Büro am Montagabend mit. Die Entscheidung erfolgte nach einem Treffen von Abbas mit anderen führenden Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Die israelische Armee sprach von einem "großangelegten Anti-Terror-Einsatz". Die Operation "Heim und Garten" richte sich gegen "terroristische Infrastruktur", hieß es. Das Militär wolle die Stadt, die unter der Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) steht, nicht besetzen, sagte Militärsprecher Richard Hecht am Montag. Jenin solle jedoch nicht weiter "ein sicherer Hafen für Terroristen" sein. Berichten zufolge sollen mehr als Tausend Soldaten an dem Einsatz beteiligt sein.
Die Region um Jenin und das dazugehörende Flüchtlingslager mit rund 17.000 Einwohnern gelten seit Jahren als Hochburg militanter Palästinenser. In einem großen Flüchtlingslager leben Hunderte teils schwer bewaffnete Kämpfer verschiedener militanter Palästinensergruppen wie Hamas und Islamischer Jihad. Laut dem israelischen Militär, das mit Hunderten Soldaten im Einsatz war, wurde bei der Razzia unter anderem ein improvisierter Raketenwerfer beschlagnahmt.
Die Armee erklärte, getroffen worden seien eine Waffenfabrik und ein Sprengstofflager sowie ein Gebäude, das als Kommandozentrum für die Jenin-Brigaden gedient habe. Die Miliz, die sich aus Kämpfern verschiedener Palästinensergruppen in dem gleichnamigen Lager zusammensetzt, meldete ihrerseits Gefechte mit israelischen Truppen und den Abschuss einer Drohne. Ein palästinensischer Rettungswagenfahrer erklärte, es würden ständig Verletzte aus dem Flüchtlingslager geholt. Das Camp sei aus der Luft angegriffen worden. "Was in dem Flüchtlingslager passiert, ist echter Krieg."
Auf Videos waren mehrere zerstörte Straßen zu sehen. Auch das "Freedom Theatre" im Zentrum der Stadt wurde getroffen, wie die Kultureinrichtung bestätigte.
Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium befinden sich zehn der 50 Verletzten in Lebensgefahr. Zudem sei nahe Ramallah ein palästinensischer Jugendlicher von den "Besatzern" erschossen worden.
Vergleichbarer Einsatz zuletzt vor 20 Jahren
Zuletzt kam es vor gut 20 Jahren während des zweiten Palästinenseraufstandes (2000-2005) zu einem vergleichbaren Einsatz. Im Jahr 2002 lieferten sich israelische Soldaten und militante Palästinenser in den engen Gassen des Lagers tagelange Gefechte. Mehr als 50 Palästinenser und 23 israelische Soldaten wurden damals getötet.
Ausgelöst worden waren die stundenlangen, nächtlichen Kämpfe am Montag durch israelische Drohnenangriffe, wie sie es bis zu einem vergleichbaren Einsatz am 21. Juni seit 2006 nicht mehr gegeben hatte. Das israelische Militär rechtfertigte die jüngsten Drohnenangriffe mit dem immer größeren Ausmaß der Gewalt und dem wachsenden Druck auf die israelischen Bodentruppen.
📽️ Video | ORF-Analyse: Militäroffensive von Israel
Im Flüchtlingslager in Jenin seien "terroristische Angriffe gegen Zivilisten" angezettelt worden, sagte der israelische Außenminister Eli Cohen. "Wir gehen mit großer Kraft gegen diese Drehscheibe des Terrorismus vor." Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant teilte mit, die Armee werde in Jenin weiter "proaktiv und entschlossen vorgehen". Israels Verteidigungsapparat sei auf jedes Szenario vorbereitet.
Der Führer der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas, Ismail Haniyeh, nannte den israelischen Einsatz "brutal", der Islamische Jihad erklärte, dass "alle Optionen offen sind, um den Feind (Israel) als Antwort auf seine Aggression in Jenin zu schlagen".
Neben der im Gazastreifen herrschenden Hamas haben in den vergangenen Jahren auch der militante Islamische Jihad sowie weitere lose Gruppierungen in Jenin massiv an Einfluss gewonnen. Finanziert werden sie größtenteils vom Iran. Die Hamas rief in der Früh zur Mobilisierung der Palästinenser im Westjordanland auf und sicherte ihren Kämpfern in Jenin Unterstützung zu.
Vor zwei Wochen waren bei einer Razzia der israelischen Armee im Flüchtlingslager sieben Menschen getötet worden. Dabei feuerte die Armee Raketen von einem Hubschrauber aus ab. Kurz darauf starben vier Israelis bei einem Angriff von zwei bewaffneten Palästinensern an einer Tankstelle nahe der Siedlung Eli. In derselben Woche tötete die israelische Armee drei Mitglieder einer "Terrorzelle" bei einem Drohnenangriff in der Nähe von Jenin.
Die Gewalt im Westjordanland hat sich in den vergangenen Monaten verschärft. Die Sicherheitslage in Israel und den palästinensischen Gebieten hatte sich zuletzt nochmals verschärft. Unter anderem aus der Regierung wurden zuletzt Rufe nach einer großangelegten Militäroffensive laut. Seit Jahresbeginn wurden mindestens 182 Palästinenser, 25 Israelis, ein Ukrainer und ein Italiener getötet, wie eine Zählung von AFP auf Grundlage offizieller Quellen ergibt.
Israel eroberte das Westjordanland und Ost-Jerusalem während des Sechstagekrieges 1967. Die Palästinenser fordern die Gebiete für einen eigenen Staat. (APA/dpa/Reuters/AFP)