Gefährlich, geächtet und doch genutzt: Streubomben für die Ukraine?
Abgerissene Hände, verstümmelte Beine: Fotos von Streubomben-Opfern zeigen das Leid, das diese Waffen anrichten können. Jetzt soll die ukrainische Armee von den USA damit versorgt werden.
Kiew/Washington – Die Aufregung war groß, als der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow Mitte Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz von den westlichen Verbündeten die Lieferung von Streumunition forderte. Wie Russland wolle auch sein Land diese Art von Kampfmitteln nutzen, also Waffengleichheit schaffen. "Es ist unser Staatsgebiet", betonte er. Die Munition könne dazu beitragen, den Angreifern standzuhalten.
Damals waren die Verbündeten noch sehr zurückhaltend. Das lag vor allem daran, dass einige NATO-Staaten den Einsatz dieser gefährlichen Waffen per internationalem Abkommen geächtet haben. Jetzt scheint es aber eine Kehrtwende zu geben. Die USA sind Medienberichten zufolge bereit, Streumunition zu liefern. Die Bundesregierung scheint nichts mehr dagegen zu haben. Es wäre wieder einmal ein qualitativ neuer Schritt bei der militärischen Unterstützung der Ukraine.
🗯 Was ist Streumunition und wie funktioniert sie?
Eine Streubombe ist ein Behälter aus Metall, der Hunderte kleiner Sprengsätze (Bomblets) enthält. Oft sehen sie aus wie bunte Getränkedosen oder Tennisbälle. Streubomben werden entweder von einem Flugzeug abgeworfen oder vom Boden aus abgefeuert. Sie öffnen sich in der Luft und setzen ihre Mini-Sprengsätze auf einem Gebiet frei, das von der Größe her mehreren Fußballfeldern entspricht. Die Bomblets sollen beim Aufprall explodieren. Ihre Metallteile können Fahrzeuge durchschlagen, Menschen und Tiere töten oder schwer verletzen. Streubomben werden eingesetzt, um feindliche Bodenkräfte und Fahrzeuge großflächig anzugreifen, sie zurückzudrängen oder ihr Vorrücken zu verlangsamen oder zu stoppen.
🗯 Wie kann die Munition der Ukraine bei der Gegenoffensive helfen?
Vor Beginn der seit wenigen Wochen laufenden Gegenoffensive der Ukraine haben die russischen Truppen Verteidigungslinien mit kilometerlangen Gräben, Panzerfallen und Minen aufgebaut. Das Kalkül der US-Regierung ist nach einem Bericht der New York Times, diese Verteidigungslinien nun mit Hilfe der Streumunition schwächen oder durchbrechen zu können. Aus dem Pentagon hatte es am Donnerstag geheißen, man würde Geschosse mit einer geringeren Rate an Blindgängern auswählen.
🗯 Was macht Streumunition so gefährlich?
Ein Teil der Mini-Bomben explodiert oft nicht und bleibt als Blindgänger im Boden stecken. Ähnlich wie Landminen werden sie jahrzehntelang zur Bedrohung, weil sie auch nach Kriegsende durch Erschütterung explodieren können. Oft trifft es Kinder, die Streubomben mit Spielzeug verwechseln können. Zu den Opfern gehören auch Bauern, die bei der Feldarbeit auf Blindgänger stoßen. Wenn Menschen überleben, erleiden sie oft Verstümmelungen, Verbrennungen und können erblinden.
📽️ Video | Debatte um US-Streubomben für Ukraine
Kritik an der Entscheidung der US-Regierung, der Ukraine Streumunition liefern zu wollen, kam am Freitag von Handicap International. "Zivilisten in der Ukraine werden noch jahrzehntelang unter Streumunition zu leiden haben", hieß es in einer Aussendung der Nothilfeorganisation. Streumunition gehöre zu den "gefährlichsten Waffen für die Zivilbevölkerung", da sie noch lange nach dem Ende des Konflikts Opfer fordern könne. Darüber hinaus erschwere sie den Zugang zu humanitärer Hilfe für die Betroffenen, betonte Anne Héry, Direktorin der internationalen Abteilung für politische Arbeit von Handicap International.
🗯 Wo wurde Streumunition schon eingesetzt?
Streubomben wurden schon im Zweiten Weltkrieg von deutschen und sowjetischen Streitkräften benutzt. Die Nothilfeorganisation Handicap International berichtet in ihrem jüngsten Streubomben-Monitor für 2022, dass seitdem mindestens 23 Staaten darauf zurückgegriffen haben. Seit 2010 registrierte die Organisation den Einsatz von Streubomben in der Ukraine, in Kambodscha, Libyen, Sudan, Südsudan und im Jemen. Im Ukraine-Krieg seien sie von beiden Seiten eingesetzt worden. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat immer wieder kritisiert, dass dabei Zivilisten verletzt und getötet wurden.
🗯 Was steht in dem Abkommen gegen Streumunition?
Das Übereinkommen über Streumunition (Convention on Cluster Munition oder Oslo-Übereinkommen) trat 2010 in Kraft. In dem Vertrag verpflichten sich Staaten, "unter keinen Umständen jemals Streumunition einzusetzen, zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern, zurückzubehalten oder an irgendjemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben".
🗯 Wer ist dem Vertrag beigetreten und wer nicht?
Bisher haben 111 Staaten diesen Vertrag ratifiziert, darunter Deutschland. 74 Länder haben das bisher nicht getan. Dazu zählen neben der Ukraine, Russland und Belarus auch die NATO-Staaten USA, Estland, Lettland, Finnland, Türkei, Griechenland, Polen und Rumänien.
🗯 Wie kam es zur plötzlichen Kehrtwende der USA?
"Dies ist ein Krieg, der mit Munition zu tun hat. Und die Munition geht ihnen aus, und wir haben nur noch wenig davon", sagte US-Präsident Joe Biden in einem CNN-Interview, das am Freitag in Teilen veröffentlicht wurde. Deshalb habe er schließlich eine Empfehlung des Verteidigungsministeriums angenommen. Moskau sprach von einer weiteren Eskalation.
Streumunition werde "nicht dauerhaft, sondern für eine Übergangszeit" geliefert, bis die USA wieder in der Lage seien, mehr von der benötigten Artillerie zu produzieren, so Biden. "Es ist eine schwierige Entscheidung. Es ist eine Entscheidung, die wir aufgeschoben haben. Es ist eine Entscheidung, die einen wirklich harten Blick auf den potenziellen Schaden für die Zivilbevölkerung erforderte", hatte bereits zuvor der nationale Sicherheitsberater von Biden, Jake Sullivan, im Weißen Haus gesagt.
🗯 Wo soll die Streumunition eingesetzt werden?
Das Pentagon betonte, man werde der Ukraine nur Streumunition mit niedriger Blindgängerrate liefern. Kiew habe außerdem zugesichert, die Geschosse nicht in dicht besiedelten städtischen Gebieten einzusetzen und festzuhalten, wo die Munition zum Einsatz komme. Weitere Details zum Zeitplan und der exakten Menge der Lieferung wollte das Pentagon nicht preisgeben. Die Bereitstellung solle aber so erfolgen, dass sie für die bereits angelaufene ukrainische Gegenoffensive relevant sei. Die USA haben nach eigenen Angaben Hunderttausende der Geschosse auf Lager.
🗯 Wie hat Russland auf die US-Medienberichte reagiert?
Russland bezeichnete die von den USA angekündigte Lieferung von Streumunition an die Ukraine als weitere Eskalation im Krieg. "Washington erhöht seinen Einsatz in dem Konflikt weiter", sagte der russische Botschafter in den USA, Anatoli Antonow, nach Angaben des Außenministeriums in Moskau in der Nacht auf Samstag. Auch ohne die Streumunition seien die USA tief verstrickt in den Konflikt und brächten "die Menschheit näher an einem neuen Weltkrieg".
Die USA seien so besessen von der Idee, Russland eine Niederlage zuzufügen, dass sie die Schwere ihrer Handlungen nicht berücksichtigten, sagte Antonow. Die Lieferung von Streumunition sei eine "Geste der Verzweiflung", mit der die USA und ihre Verbündeten ihre Impotenz an den Tag legten. Sie wollten nicht ihre eigenen Misserfolge einräumen bei der ukrainischen Gegenoffensive gegen die russischen Stellungen. "Deshalb begehen sie neuen Irrsinn." (APA/dpa)
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