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Ukraine wagt laut Berichten wichtigen Vorstoß

Wieder Angriffe auf Odessa (Archivbild)
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Bei ihrer seit rund sieben Wochen andauernden Gegenoffensive haben die ukrainischen Streitkräfte laut einem Bericht der "New York Times" ihren bisher wichtigsten Vorstoß gegen die russischen Invasoren begonnen. Daran seien im Südosten des Landes Tausende teils vom Westen ausgebildete und ausgerüstete Soldaten beteiligt, die bisher in Reserve gehalten worden seien, berichtete die US-Zeitung am Donnerstag unter Berufung auf Pentagon-Beamte.

Bei dem ukrainischen Vorstoß gehe es darum, durch von Russland gelegte Minenfelder und andere Barrieren in Richtung Süden zur Stadt Tokmak und, wenn möglich, bis ins etwa 40 Kilometer von der Küste entfernte Melitopol vorzudringen, so das Blatt weiter. Ziel sei es, die Landbrücke zwischen der russisch-besetzten Ukraine und der Halbinsel Krim zu durchtrennen oder zumindest so weit vorzurücken, dass die strategisch wichtige Halbinsel in Reichweite der ukrainischen Artillerie gerate. Der Vorstoß könne bei einem erfolgreichen Verlauf bis zu drei Wochen dauern, hieß es unter Berufung auf ukrainische Beamte weiter. Das Weiße Haus und das Pentagon beobachteten die Aktivitäten genau. "Dies ist der große Test", zitierte die "New York Times" einen hochrangigen Beamten.

Die neuen Attacken seien bisher erfolglos, sagte Russlands Präsident Putin. "Alle Versuche der Gegenoffensive wurden gestoppt, der Feind mit großen Verlusten zurückgeworfen", sagte er der Nachrichtenagentur Interfax zufolge am Donnerstag am Rande des russischen Afrika-Gipfels in St. Petersburg. Putin bestätigte Berichte, wonach sich die ukrainischen Kampfhandlungen jüngst deutlich intensiviert hätten und die Ukraine für ihre Offensive Reserven eingesetzt habe. Er sagte, die ukrainischen Angreifer hätten allein binnen 24 Stunden rund 200 Soldaten verloren, das Zehnfache der russischen Verluste.

Vor dem Hintergrund verstärkter ukrainischer Angriffe hielt Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Beratung der Militärspitze im südöstlichen Dnipro ab. "Lage an der Front, der Verlauf unserer Angriffs- und Abwehrhandlungen, Aufklärungsdaten", beschrieb der Staatschef am Donnerstag den Inhalt der Beratungen in sozialen Netzwerken. Besondere Aufmerksamkeit habe der Versorgung der Armee mit Munition gegolten. Details zu den laufenden Angriffen gab es von ukrainischer Seite nicht. Russische Quellen berichteten über starke ukrainische Attacken mit schwerer Panzertechnik im Gebiet Saporischschja bei Robotyne.

Bei nächtlichen Raketenangriffen auf die Hafeninfrastruktur der südukrainischen Region Odessa kam mindestens ein Mensch ums Leben. Bei dem Toten handle es sich um einen zivilen Wachmann, teilte der Militärgouverneur der Region, Oleh Kiper, am Donnerstag auf seinem Telegram-Kanal mit. Zudem seien Anlagen in einem Frachtterminal, das Wachhaus und zwei Autos zerstört worden. Laut Kiper wurde der Angriff mit seegestützten Lenkwaffen vom Typ Kalibr ausgeführt. Die Raketen seien von einem U-Boot der russischen Schwarzmeerflotte abgefeuert worden. Nach Angaben der ukrainischen Flugabwehr wurden zudem auch Drohnen über den Gebieten Chmelnyzkyj, Dnipropetrowsk und Donezk abgefangen. Insgesamt soll Russland demnach zwei Kalibr-Rakten und acht Kamikaze-Drohnen eingesetzt haben. Bei einem weiteren nächtlichen Angriff im Ort Kiwshariwka in der östlichen Region Charkiw wurden nach ukrainischen Angaben eine 74-jährige Frau getötet und vier weitere Menschen verletzt.

Der russische Geheimdienst FSB erklärte unterdessen, er habe einen Angriff auf ein russisches Schiff im Schwarzen Meer vereitelt. Der ukrainische Geheimdienst habe mit Hoch-Präzisionsraketen einen "Terroranschlag an Bord von einem der Schiffe der Schwarzmeerflotte" verüben wollen, erklärte der FSB. Weiter hieß es, an dem Vorhaben sei ein russischer Marinesoldat beteiligt gewesen, der vom ukrainischen Geheimdienst angeworben worden sei. Ihm würden nun ein "terroristischer Angriff", der Schmuggel von Sprengstoff, Hochverrat und der Verrat von Staatsgeheimnissen zur Last gelegt.

Zudem teilte der FSB am Donnerstag mit, es seien "Spuren von Sprengstoff" an einem Frachtschiff im Schwarzen Meer gefunden worden. Die Spuren seien "im Frachtraum" und "auf der Oberfläche eines Rettungsbootes" eines aus dem türkischen Sinop kommenden Frachters gefunden worden. Dem Frachter, der für ein "Verladen von Getreide" den Hafen im südrussischen Rostow am Don ansteuerte, sei daher der Zugang zu russischen Gewässern verwehrt worden.

Das ukrainische Parlament verlängerte indes das nach dem russischen Einmarsch verhängte Kriegsrecht und die angeordnete Mobilmachung um weitere 90 Tage. Für die Gesetze stimmte am Donnerstag eine überdeutliche Zweidrittelmehrheit, wie mehrere Abgeordnete auf ihren Telegram-Kanälen mitteilten. Beide Maßnahmen gelten nun bis Mitte November. Die Verlängerung des Kriegsrechts macht auch die verfassungsgemäß vorgesehenen Parlamentswahlen unmöglich. "Ende Oktober wird es in der Ukraine keine Parlamentswahlen geben", konstatierte der oppositionelle Parlamentsabgeordnete Olexij Hontscharenko am Donnerstag bei Telegram. Das geltende Kriegsrecht verbietet die Abhaltung von Wahlen.

Die ukrainische Verfassung schreibt reguläre Parlamentswahlen für den letzten Oktobersonntag im fünften Amtsjahr des Parlaments vor. Das wäre am 29. Oktober dieses Jahres der Fall. In der Ukraine war jedoch allgemein erwartet worden, dass dieser Wahltermin nicht eingehalten werden kann. Bei längerem Krieg droht auch der nach der Verfassung für den 31. März 2024 vorgesehenen Präsidentenwahl ein Aufschub. Regierungsvertreter hatten dabei mehrfach betont, dass alle nicht abgehaltenen Wahlen gemäß Gesetz innerhalb von 90 Tagen nach der Aufhebung des Kriegsrechts angesetzt werden. Russland ist vor über 17 Monaten in die Ukraine einmarschiert. Unmittelbar danach verhängte das Parlament das Kriegsrecht.

Nach Einschätzung des britischen Verteidigungsministeriums hat Russland im Angriffskrieg gegen die Ukraine Dutzende Kampfhubschrauber verloren, mit ihnen allerdings auch erhebliche Schäden angerichtet. "Russland hat seit der Invasion höchstwahrscheinlich etwa 40 Ka-52 verloren, aber dieser Typ hat der Ukraine auch einen hohen Preis abverlangt", schrieben die Briten am Donnerstag in ihrem täglichen Update bei Twitter. In den vergangenen Monaten habe Russland seine Streitkräfte im Süden sehr wahrscheinlich - zumindest mit einer kleinen Anzahl - brandneuer Ka-52M-Varianten erweitert, einem stark modifizierten Fluggerät, das auf den Erfahrungen der Russen in Syrien beruhe, schrieben die Briten.

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