Ganzes Dorf ausgelöscht: Nachbeben erschüttert Marokko, schon über 2100 Tote
Die verängstigten Menschen in Marokkos Katastrophengebieten haben die zweite Nacht in Sorge und Trauer über die vielen Todesopfer des Erdbebens verbracht. Die Suche nach Überlebenden gestaltet sich schwierig. Hilfskräfte in vielen Ländern stehen in den Startlöchern.
Rabat – Nach dem Erdbeben in Marokko hat ein Nachbeben am Sonntag die Bergungsarbeiten erschwert. Das Land sei gegen 09.00 Uhr davon erschüttert worden, sagte Nasser Jabour, Leiter einer Abteilung des Nationalen Instituts für Geophysik. Die internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) gab indessen am Sonntag eine Million Franken (1,05 Millionen Euro) für Hilfsleistungen frei. Die Zahl der Toten stieg indes auf 2122.
Die US-Erdbebenwarte USGS verzeichnete eine Stärke von 3,9. Das Epizentrum des Nachbebens lag laut Hespress etwa 80 Kilometer südwestlich von Marrakesch, ähnlich wie das erste Beben. Zahlen zu Opfern lagen vorerst noch nicht vor. In den abgelegenen Bergdörfern des nordafrikanischen Landes gruben sich die Einsatzkräfte mit schwerem Gerät durch Trümmer eingestürzter Häuser. Doch für die Helfer wird das Zeitfenster immer knapper. Bei der Suche nach Verschütteten in Folge eines Erdbebens sprechen Experten in etwa von einem Zeitfenster von 72 Stunden.
📽️ Video | El-Gawhary (ORF) zum Beben in Marokko
In abgelegenen Bergdörfern des nordafrikanischen Landes gruben sich Rettungskräfte mit schwerem Gerät durch Trümmer eingestürzter Häuser. Ein kleines Bergdorf in der Provinz Chichaoua wurde nahezu vollständig zerstört, wie der staatliche marokkanische Fernsehsender TV 2M am Sonntag meldete. 65 Leichen seien geborgen und ein Massengrab eingerichtet worden. Es wurden Drohnen eingesetzt, um den Einsatzkräften bei der Suche nach Leichen zu helfen, wie die Nachrichtenseite Hespress berichtete. Allein in Chichaoua wurden 191 Todesfälle registriert.
Hunderte von Menschen galten am Sonntag noch als vermisst, berichtete der arabischsprachige Nachrichtensender Al-Arabiya. Die Helfer kommen jedoch in den teils abgelegenen Bergregionen nur mit Mühe voran. Zudem bestand weiter die Gefahr von Nachbeben, wodurch beschädigte Gebäude vollends einstürzen könnten.
Trotz zahlreicher Hilfsangebote aus aller Welt hat die Regierung des Landes bislang offiziell keine Unterstützung angefordert. Dieser Schritt ist nötig, bevor ausländische Rettungskräfte eingesetzt werden können. Dennoch halten sich Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks (THW) und von weiteren Hilfsorganisationen in Deutschland und anderen Ländern für einen möglichen Flug in das Katastrophengebiet bereit. "Von unserer Seite ist alles in die Wege geleitet", sagte eine Sprecherin des THW am Samstagabend der Deutschen Presse-Agentur.
Auch die Staats- und Regierungschefs der EU boten in einem Brief an den König ihre Hilfe an und drückten ihre Anteilnahme aus. "Als enge Freunde und Partner Marokkos sind wir bereit, Ihnen in jeder Weise zu helfen, die Sie für nützlich halten", heißt es in dem Schreiben.
Mehr als 300.000 Menschen betroffen
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sind mehr als 300.000 Menschen in Marrakesch und umliegenden Gebieten von der Katastrophe betroffen. Örtliche Rettungskräfte suchten zusammen mit Soldaten unter Trümmern weiter nach Überlebenden. "Meine Frau, meine Kinder und ich versuchten, das Haus zu verlassen, aber meine kleine Tochter und mein Vater, der 102 Jahre alt ist, blieben. Ich habe versucht, zurückzugehen, um sie herauszuholen, aber vergeblich, mein Vater und meine Tochter sind dort gestorben", schilderte ein Überlebender in der Stadt Imintanoute der Nachrichtenseite Hespress.
Österreicherinnen und Österreicher seien nach bisherigem Wissensstand nicht verletzt worden, teilte das Außenministerium am Samstag auf APA-Anfrage mit. Aktuell seien rund 60 Personen reiseregistriert, hieß es. Laut Ministerium befinden sich aktuell rund 215 Auslandsösterreicherinnen und Auslandsösterreicher in Marokko. "Sie wurden noch in der Nacht per SMS und Email kontaktiert und werden aktuell von der Botschaft durchgerufen", sagte eine Sprecherin. In diesem Zusammenhang verwies das Ministerium auch auf den Bereitschaftsdienst (+43 90115 4411), der rund um die Uhr erreichbar sei. Der Flughafen in Marrakesch funktioniere derzeit normal und es gebe genügend Flüge, um zurück nach Österreich zu kommen, teilte das Außenministerium mit.
Hilfsorganisationen und NGOs arbeiten seit Samstag ununterbrochen. "Der Marokkanische Rote Halbmond (MRH) ist mit seinen über 8.000 freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seit gestern in den frühen Morgenstunden im Dauereinsatz", wurde Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes am Sonntag in einer Aussendung zitiert. Nach wie vor stehe die Suche und Rettung nach Verschütteten im Fokus der Helfer. Wobei das Zeitfenster für erfolgreiche Lebendrettungen zunehmend kleiner wird", warnte Opriesnig.
Der Generalsekretär richtete zudem am Sonntag auch einen Appell an alle hilfswilligen Menschen in Österreich. "Sehr viele Menschen aus Österreich und Deutschland melden sich bei uns und wollen helfen. Allerdings raten wir momentan davon ab, ins betroffene Gebiet zu reisen", sagte er. "Die Gefahr ist zu groß und Menschen von außen, die untergebracht und verköstigt werden müssen, stellen eine zusätzliche Belastung für Hilfsorganisationen dar." Finanzielle Unterstützungen an professionelle NGOs oder lokale Initiativen würden die Betroffenen in Marokko am besten unterstützen, hieß es. Erneute Spendenaufrufe kamen am Sonntag auch von der Caritas sowie dem Hilfswerk.
Es wurde unterdessen befürchtet, dass die Zahl der Opfer weiter steigt, wenn Einsatzkräfte entlegene Regionen erreichen. Das ganze Ausmaß der Naturkatastrophe war daher zunächst weiter ungewiss.
Das Epizentrum lag gut 70 Kilometer südwestlich von Marrakesch im Atlasgebirge. Dort liegen Ortschaften entlang steiler und kurvenreicher Serpentinen. Da Erdbeben in Nordafrika relativ selten auftreten, sind Gebäude nach Einschätzung von Experten nicht robust genug gebaut, um solchen starken Erschütterungen standzuhalten. Das Beben der Stärke 6,8 hatte am späten Freitagabend Panik ausgelöst.
In Gebieten vom Atlasgebirge bis zur Altstadt von Marrakesch wurden Gebäude zerstört und berühmte Kulturdenkmäler beschädigt. Das Beben sei in einem Umkreis von 400 Kilometern zu spüren gewesen, sagte Nasser Jabour, Leiter einer Abteilung des Nationalen Instituts für Geophysik, der marokkanischen Nachrichtenagentur MAP. Es dauerte mehrere Sekunden an. Nach Angaben der US-Erdbebenwarte USGS ereignete sich das Beben in einer Tiefe von 18,5 Kilometern. Erdbeben in einer solch geringen Tiefe sind Experten zufolge besonders gefährlich.
Marokkos Fußball-Nationalspieler und ihre Trainer spendeten nach dem Erdbeben Blut. In einer Story auf dem Instagram-Kanal der nordafrikanischen Auswahl wurden am Samstag diverse Profis kurz gezeigt, wie ihnen mit einer Kanüle im Arm Blut abgenommen wird.
Marokko liegt auf der sogenannten Afrikanischen Platte, die weltweit eine der größten Kontinentalplatten ist. Beim Erdbeben in Marokko hätten sich Schollen der Afrikanischen und der Eurasischen Platte, die nördlich davon liegt, ruckartig gegeneinander bewegt, erklärte der Seismologe Torsten Dahm vom Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ). Das Zusammenstoßen an sich sei ein ständiger und langsamer Vorgang, der dazu führt, dass die Platten sich verbiegen und Spannung aufbauen. Diese könne sich wie in diesem Fall ruckartig entladen. (APA/dpa)
Hunderte Menschen verletzt