Angehörige verschleppter Israelis sind verzweifelt und in Angst
Das Schicksal vieler Menschen aus Israel ist ungewiss: Mehr als hundert von ihnen wurden von bewaffneten Kämpfern über die Grenze nach Gaza verschleppt. Sie sollen angeblich bei Angriffen der Israelis als menschliche Schutzschilder dienen. Angehörige suchen in Sozialen Netzwerken nach ihren Liebsten.
Lod – So unfassbar brutal wie der Angriff der Hamas-Kämpfer auf Zivilisten in Israel war, so erschreckend groß ist nun die Zahl der Angehörigen, die nach ihren vermissten Eltern, Kindern, Geschwistern, Großeltern oder Cousinen suchen. "Ich will ihn einfach nur umarmen können", sagt Omri Shtivi verzweifelt, der seinen Bruder Idan sucht. Idan wird seit dem Angriff der Hamas auf ein Musikfestival im Süden Israels vermisst.
Allein dort töteten Hamas-Angreifer bis zu 260 Menschen und verschleppten viele in den Gaza-Streifen, darunter auch Deutsche. Shtivi sagt, die Behörden hätten sich bisher nicht an seine Familie gewandt, um zu helfen. Es wurde aber ein "Einsatzzentrum für vermisste Menschen" in der Nähe des internationalen Ben Gurion Flughafens in Lod in Zentralisrael von der Polizei und der Armee eingerichtet.
Dutzende verzweifelte Angehörige sind dort seit Samstagabend, in der Hoffnung, Informationen zu bekommen. Persönliche Gegenstände der Verschwundenen wie Zahnbürsten oder Kämme sollen sie vorbeibringen, um eine Identifizierung über DNA-Analysen im Falle des Todes zu ermöglichen.
260 Leichen auf Festivalgelände
Hamas-Angreifer verwandelten Festival in Massaker, auch Ausländer in Israel getötet
Viele hoffen dort auf Hilfe, so wie die 42-jährige Mor Strikovski, deren 63-jährige Mutter aus dem Kibbuz Beeri in der Nähe des Gazastreifens verschwunden ist. Wie andere Israelis auch, ist sich Strikovski sicher, ihre Mutter auf einem im Internet entdeckten Video erkannt zu haben. "Hamas-Leute haben sie mit ihrem Mann und zwei Nachbarn in ihrem Haus gekidnappt und haben sie aus dem Kibbuz gebracht. Wir denken, sie sind in Gaza", sagt sie sichtlich in Angst um ihre Mutter.
Terrorismusforscher: Israel kann Hamas nur schwer komplett zerstören
Der Terrorismusforscher Peter Neumann vom King's College in London hält es für ziemlich sicher, dass es zu einem Einsatz israelischer Bodentruppen in Gaza kommen wird. Dabei sollten zunächst die dort gehaltenen Geiseln befreit und dann die Infrastruktur der Hamas so weit zerstört werden, dass Angriffe wie am Wochenende unmöglich werden. Das von Israel ausgegebene Ziel, die Hamas komplett zu zerstören, sei aber nur sehr schwer zu erreichen, sagte er am Montag.
Dazu sei die Organisation neben ihren terroristischen Aktivitäten zu stark auch in der Zivilgesellschaft des Gazastreifens verankert. "Man muss ja berücksichtigen, dass Hamas eben nicht nur eine militärische oder eine terroristische Organisation ist, sondern ab den späten 1980ern, wo sie entstanden ist, eine umfassende soziale Bewegung aufgebaut hat, die über Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser verfügt", sagte Neumann im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Der Einsatz von Bodentruppen im dicht besiedelten Gazastreifen berge zudem große Risiken. Dem deutschen Wissenschafter zufolge dürfte die Hamas geradezu darauf warten, die israelische Armee in einen wochen- oder monatelangen blutigen Häuserkampf in Gaza zu verwickeln, in dessen Verlauf sie Israel als Täter darstellen könne.
Zudem lauere die Gefahr einer zweiten Front im Norden aus dem Libanon durch die schiitische Hisbollah-Miliz. Es gebe Berichte, die darauf hindeuteten, dass der Hamas-Angriff am Wochenende "möglicherweise nur der Anfang" einer koordinierten Aktion der beiden mit dem Iran verbündeten Organisationen gewesen sei. Die Gefahr sei, "dass während Israel im Gazastreifen feststeckt, sozusagen die Offensive aus dem Norden kommt und nicht mehr die Ressourcen bereitstehen, das zu verteidigen", sagte Neumann.
Mehr als hundert Menschen verschleppt
Insgesamt mehr als hundert Menschen wurden nach Angaben der israelischen Regierung am Samstag an verschiedenen Orten in Israel von der Hamas entführt. Hunderte weitere wurden getötet. Es wird also länger dauern, bis alle Opfer lokalisiert oder identifiziert sind, sagte Shelly Harush von der Polizei in dem Einsatzzentrum. Weinend und erschöpft verlassen viele Angehörige am Sonntag das Zentrum wieder.
Zahlreiche Israelis haben die Suche nach ihren verschleppten Angehörigen selbst in die Hand genommen und verzweifelte Aufrufe in den Online-Netzwerken gestartet. So wie die Mutter der Deutschen Shani Louk, die ebenfalls seit dem Rave-Festival in der Negev-Wüste im Süden des Landes vermisst wird. Auf einem Video ist die 22-Jährige halb nackt auf einem Pick-up zwischen mehreren Hamas-Männern offenbar im Gazastreifen zu sehen, mit dem Gesicht zum Boden, die Beine verdreht, mindestens bewusstlos. Ein junger Palästinenser spuckt im Vorbeigehen auf ihren leblosen Körper.
Ihre Mutter Ricarda Louk hat die Hoffnung dennoch nicht aufgegeben. Sogar auf Deutsch bittet sie in einem Video um Informationen zu ihrer Tochter und Hilfe, um die deutschen Behörden mit ins Boot zu holen. Dass es sich um Shani Louk handelt in dem Video, da ist sie sich sicher - ihre auffälligen Tätowierungen an den Beinen und die Dreadlocks-Frisur ließen laut dem Nachrichtenmagazin "Spiegel" keinen Zweifel zu. Hinzu kommt, dass die Bankkarte der Tochter demnach in Gaza benutzt wurde.
"Wir wollen, dass sie nach Hause kommen"
Die 37-jährige Yifat Zailer hat Fotos ihrer Cousine bei Facebook veröffentlicht. Shiri Bivas lebte im Kibbuz Nir Oz rund zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt und wurde vermutlich mit ihren zwei Kindern im Alter von neun Monaten und drei Jahren verschleppt. Auch hier ist ein Video mit der Mutter und ihren zwei Kindern in dem Palästinensergebiet der einzige Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Der Mann von Shiri Bivas und dessen Eltern sind verschollen. "Wir wollen wissen, wie es ihnen geht, wir wollen, dass sie gesund nach Hause kommen", sagt Zailer im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP unter Tränen.
Adva Adar hat über die Online-Netzwerke erfahren, dass ihre 85-jährige Großmutter ebenfalls aus dem Kibbuz Nir Oz von der Hamas entführt wurde. "Wir wissen nicht, wo sie ist und ob sie Essen und Wasser hat", sagt die Enkelin und weint. "Sie ist krank. Sie braucht Medikamente. Selbst in unseren schrecklichsten Albträumen hätten wir uns das nicht vorstellen können."
Andere wie die 19-jährige Ester Borochov überlebten den Horror - wie durch ein Wunder. Die junge Frau war ebenfalls bei dem Musikfestival, als Hamas-Kommandos begannen, von allen Seiten wahllos auf die überwiegend jungen Menschen zu schießen.
Borochov kann in einem Auto flüchten, das dann aber durch Schüsse gestoppt wird, sich überschlägt und im Graben liegen bleibt. "Wir haben uns in dem Auto tot gestellt, meine Freundin und ich, zweieinhalb Stunden lang, bis Hilfe gekommen ist (...) so haben wir das überlebt." (APA/AFP)
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