Hunderttausende in Gaza flüchten Richtung Süden, erneut Raketenalarm in Tel Aviv
Nach dem Evakuierungsaufruf Israels haben sich am Samstag Hunderttausende im Gazastreifen auf den Weg Richtung Süden gemacht. Israels Armee verlängert die Evakuierungsfrist bis 16.00 Uhr. Im Zuge des Konfliktes sind im Gazastreifen bis jetzt über 2200 Palästinenser getötet worden.
Gaza, Tel Aviv – Nach dem Evakuierungsaufruf der israelischen Armee haben sich deren Angaben zufolge Hunderttausende im Gazastreifen auf den Weg Richtung Süden gemacht. „Wir sind uns im Klaren, dass dies Zeit brauchen wird“, sagte Militärsprecher Richard Hecht am Samstag. Die Hamas versuche auch, die Zivilisten aufzuhalten. Das israelische Militär hatte zuvor den Einwohnern des nördlichen Gazastreifens auch am Samstag wieder einen Zeitraum und eine Fluchtroute ohne Angriffe zugesichert.
Beobachter gehen davon aus, dass das israelische Militär die mehr als eine Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens zur Evakuierung in den Süden des Gazastreifens aufgefordert hat, weil eine Bodenoffensive bevorsteht. Seit dem beispiellosen Massaker an israelischen Zivilisten durch Terroristen im Auftrag der Hamas in Grenzorten und auf einem Musikfestival fliegt das israelische Militär massive Luftangriffe auf Ziele in dem dicht besiedelten Küstenstreifen.
💬 Schallenberg: "Jedes zivile Opfer der Hamas zuzuschreiben"
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat die mangelnde Distanzierung der Palästinenserführung von der Hamas als "beschämend" kritisiert und Israels Vorgehen gegen die radikal-islamische Terrororganisation im Gazastreifen verteidigt. "Jedes zivile Opfer im Gazastreifen ist der Hamas zuzuschreiben", sagte Schallenberg im Ö1-Mittagsjournal.
Umfragen zufolge stehe nur eine Minderheit der Bevölkerung in Gaza hinter der Hamas, sagte Schallenberg, der an die Palästinenser appellierte, sich stärker gegen die Hamas zu äußern. Es gebe auch keine israelische Okkupation im Gazastreifen, dieser stehe unter Selbstverwaltung der Palästinenser, betonte Schallenberg. "Ich finde es beschämend und sehr beunruhigend", so Schallenberg, "dass von der palästinensischen Behörde nicht die geringste klare Distanzierung kommt."
Eine Einwirkung auf den Iran bezeichnete Schallenberg als "schwierig". Die unmittelbare Beteiligung des Iran an dem Hamas-Massaker an Israelis sei nicht nachweisbar. Es sei aber hinlänglich bekannt, wie stark der Iran die Hamas und die Hisbollah finanziell und mit Waffen unterstütze.
Zu den Warnungen der UNO gegenüber Israel sagte Schallenberg, Ermahnungen zum humanitären Völkerrecht "machen wir ständig". "Das humanitäre Völkerrecht ist nicht verhandelbar." Man dürfe aber auch keine Opfer-Täter-Umkehr betreiben. "Sie wollen keine Zivilisten als Opfer haben, die Hamas will Zivilisten massakrieren und abschlachten und sie als menschliche Schutzschilde verwenden." Es sei ein "Zynismus sondergleichen", dass die Hamas die Bevölkerung an Flucht vom Norden Gazas hindere.
Österreich spreche sich weiter für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, auch wenn diese nunmehr als illusorisch erscheine, so Schallenberg.
Verantwortlicher für Zivilisten-Massaker getötet
Unterdessen tötete das israelische Militär bei Angriffen auf Einsatzzentralen der islamistischen Hamas im Gazastreifen einen der mutmaßlich Verantwortlichen des Massakers an israelischen Zivilisten. Merad Abu Merad, Leiter des Hamas-Luftüberwachungssystems in Gaza-Stadt, sei maßgeblich für die Steuerung der Terroristen während des Massakers verantwortlich gewesen, teilte das israelische Militär Samstag früh mit. Auch Ali Kadi, der als Kommandeur einer Eliteeinheit den Überfall bewaffneter Kämpfer auf Ortschaften im Süden Israels vor einer Woche angeführt hatte, sei bei einem Luftangriff getötet worden, teilte die Armee am Samstag mit.
📽️ Video | Zahl der zivilen Opfer steigt
Die Zahl der bei israelischen Angriffen im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist auf 2215 gestiegen. Zudem seien 8714 Menschen verletzt worden, teilte das Gesundheitsministerium im Gazastreifen am Samstag mit.
🖊️ Mindestens elf Journalisten getötet
Im Krieg zwischen Israel und der islamistischen Hamas sind nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) bereits mindestens elf Journalisten getötet worden. Mindestens zwei Journalisten wurden verletzt, zwei gelten als vermisst.
Unter den getöteten Journalisten seien neun Palästinenser, ein Israeli und der im Libanon ansässige Kameramann der Nachrichtenagentur Reuters, Issam Abdallah, der am Freitag an der Grenze zu Israel durch Beschuss getötet worden war. In dem Gebiet hatte es zuvor einen Schusswechsel zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz gegeben.
Terroristen hatten vor genau einer Woche im Auftrag der Hamas ein Massaker unter israelischen Zivilisten in Grenzorten und auf einem Musikfestival angerichtet - das schlimmste seit Israels Staatsgründung. Mehr als 1.300 Menschen kamen dabei ums Leben. Darunter seien auch mindestens 265 israelische Soldaten, teilte Militärsprecher Richard Hecht am Samstag mit. Die weitaus meisten der bei den Großangriffen getöteten Menschen sind demnach Zivilisten. Bei 120 Menschen gelte als gesichert, dass sie in den Gazastreifen verschleppt worden sind, sagte Hecht.
Israelische Kampfflugzeuge hätten in der Nacht Dutzende Hamas-Ziele im gesamten Gazastreifen angegriffen und dabei "Nukhba"-Terroristen getroffen, die sich in einem Aufmarschgebiet der Küstenenklave aufhielten, hieß es. Die "Nukhba"-Terroristen gehörten zu den Kräften, die das Eindringen nach Israel anführten. Israel antwortet seitdem mit massiven Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen. Als nächster Schritt könnte eine Bodenoffensive folgen.
📽️ Video | Nikolaus Wildner zur Situation im Gazastreifen
Terroristen bei Eindringen aus Libanon getötet
Währenddessen tötete das israelische Militär nach eigenen Angaben mutmaßliche Terroristen beim versuchten Eindringen vom Libanon aus nach Israel. Wie das israelische Militär am Samstagmorgen bekannt gab, hätten Soldaten eine "Terrorzelle" identifiziert, die versucht habe, vom Libanon aus in israelisches Gebiet einzudringen. Eine Drohne des Militärs habe "einige der Terroristen" getötet, hieß es. Seit dem Terror-Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel vom vergangenen Wochenende kam es an Israels Grenze zum Libanon im Norden immer wieder zu Kampfhandlungen mit der Hisbollah-Miliz.
Taliban verurteilen israelische Angriffe auf Gaza
Die in Afghanistan herrschenden Taliban haben zum Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen aufgerufen. Die Regierung der Taliban verurteilte in einer Erklärung vom Samstag die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen aufs Schärfste.
Unterdessen zogen Hunderte Demonstranten in Afghanistan auf die Straßen, um ihre Solidarität mit den Palästinensern zu bekunden. Dabei skandierten die Protestteilnehmer auch Parolen gegen Israel. Bevor die Taliban vor zwei Jahren in Kabul wieder an die Macht kamen, hatten die militanten Islamisten selbst jahrelang Anschläge auch auf Zivilisten verübt.
Neuer Zeitraum für Evakuierung
Das israelische Militär sicherte indes den Einwohnern des nördlichen Gazastreifens auch am Samstag wieder einen Zeitraum ohne Angriffe zu, um sich in den Süden der Küstenenklave zu begeben. Zwischen 10.00 und 16.00 Uhr Ortszeit (09.00 bis 15.00 Uhr MESZ) sollen die Bewohner von Beit Hanun auf einer eingezeichneten Fluchtroute nach Khan Yunis gehen, wie ein Sprecher der Armee in arabischer Sprache auf der Plattform X (früher Twitter) mitteilte. Dort sei in den angegeben Stunden Bewegung "ohne Schaden" möglich.
Die Armee vermutet Mitglieder der Hamas in Tunneln unterhalb der Häuser und auch in Wohngebäuden der Menschen. Der Aufruf zur Evakuierung sei auf verschiedenen Wegen verschickt worden. Das israelische Militär warf der Hamas vor, zu versuchen, die Bevölkerung daran zu hindern, sich in Sicherheit zu bringen, und sie als "menschliches Schutzschild" zu missbrauchen.
❗ US-Bürger dürfen am Samstag von Gaza nach Ägypten ausreisen
Die USA haben Medienberichten zufolge eine vorübergehende Öffnung des Grenzübergangs Rafah von Gaza nach Ägypten für US-Bürger ausgehandelt. Die israelische und die ägyptische Regierung hätten zugestimmt, US-amerikanischen Staatsangehörigen am Samstag zwischen 12.00 und 17.00 Uhr Ortszeit (11.00 bis 16.00 Uhr MESZ) die Ausreise von Gaza nach Ägypten zu gestatten.
Beobachter am Grenzübergang sahen hingegen zu Beginn des Zeitfensters zunächst noch keine Anzeichen für eine Öffnung. Es liefen Gespräche, hieß es nur. Unklar war auch, ob möglicherweise auch andere ausländische Staatsangehörige die Grenze überqueren könnten. Es sei zudem möglich, dass die islamistische Hamas versuchen würde, Menschen an der Ausreise zu hindern, berichteten die Zeitungen. Der Golfstaat Katar, der zu den wichtigsten Unterstützern der Hamas zählt, sei diesbezüglich im Gespräch mit den Islamisten.
Rafah ist der einzige Grenzübergang vom Gazastreifen nach Ägypten. Alle anderen Grenzübergänge gehen nach Israel. Israel hat nach den verheerenden Terrorangriffen der Hamas aus dem Gazastreifen eine Blockade über das Gebiet verhängt.
Kritik an Massenevakuierung
An Israels Aufforderung zur Massenevakuierung gibt es viel Kritik. Die Vereinten Nationen forderten Israel bereits am Freitag auf, die Anweisung zu widerrufen. Es drohe eine "katastrophale Situation". Auch aus Saudi-Arabien und Ägypten gab es scharfe Kritik. Beobachter gehen davon aus, dass das israelische Militär die mehr als eine Million Palästinenser im Norden des Küstenstreifens zur Evakuierung aufgefordert hat, weil eine Bodenoffensive bevorsteht.
Das UNO-Büro für humanitäre Hilfe (OCHA) schätzt, dass im Gazastreifen Zehntausende Menschen bereits in den Süden geflohen sind. Israel hatte den Palästinensern 24 Stunden Zeit gegeben, den Norden der Enklave in Vorbereitung auf die bevorstehende Bodenoffensive zu verlassen.
UNO-Generalsekretär: Lage „extrem gefährlich“
Das UNO-Büro für humanitäre Hilfe (OCHA) teilte mit, dass bereits vor der Aufforderung zur Evakuierung insgesamt bereits 400.000 Palästinenser wegen des Konflikts vertrieben worden seien. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnet die Flucht von Zivilisten aus Gaza-Stadt in Richtung Süden als "extrem gefährlich". UN-Sprecher Stephane Dujarric sagte dazu: "Zivilisten müssen geschützt werden. Wir wollen keinen Massenexodus von Gaza-Bewohnern erleben."
Bei den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen sind nach Angaben der UNO bereits mehr als 1300 Gebäude komplett zerstört worden. Davon betroffen seien 5.540 Wohneinheiten.
Jordaniens Außenminister Ayman Safadi warnte, jeder Schritt Israels mit der Folge einer Vertreibung von Palästinensern im Gazastreifen führe die Nahost-Region an den Abgrund eines größeren Konflikts. Safadi bezeichnet es zudem als eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht, dass Israel humanitäre Hilfe für den Gazastreifen blockiere.
Für Palästinenser erinnert die Vorstellung, das Land zu verlassen oder vertrieben zu werden, auf dem sie einen Staat gründen wollen, an die "Nakba" oder "Katastrophe", als viele Palästinenser während des Krieges von 1948, der mit der Gründung Israels einherging, ihre Häuser verließen. Etwa 700.000 Palästinenser, die Hälfte der arabischen Bevölkerung des von Großbritannien regierten Palästina, flohen damals oder wurden aus ihren Häusern vertrieben, viele strömten in benachbarte arabische Staaten, wo sie oder viele ihrer Nachkommen geblieben sind. Viele leben noch immer in Flüchtlingslagern. (APA, Reuters, dpa)